Welt vs. Kirche
Ein Fotoblog von Ursula Kaufmann
Lässig lümmelt Inoru Toda auf der Bühne. In der Wand hinter ihm ragt aus einer Öffnung, als wäre es völlig normal, ein nacktes Paar Frauenbeine. Ein Arm kommt hinzu, aus einer weiteren Öffnung. Todas zärtliche Liebkosungen dieser anonymen Körperteile haben etwas Abstoßendes. Die Figur des Blaubart ist ja eben alles andere als ein sympathischer Zeitgenosse. Reihenweise lässt er Frauen über die Klinge springen. Ein Soziopath und Mörder der ganz besonderen Kategorie.
Mit dem, was Andrea Costanzo Martini gemeinsam mit der Tanzcompany des Musiktheater im Revier auf die Bühne des Kleinen Hauses gebracht hat, drehen alle gemeinsam diesen Fiesling aber selbst durch den Fleischwolf, zumindest im übertragenen Sinn. Testosterongeschwängert ist die Luft ganz zu Anfang: Ein herrlicher Vertreter des vermeintlich starken Geschlechts nach dem nächsten nimmt die Bühne für sich in Anspruch. Maskuline Gesten und Posen en masse. Selbst die Kostüme schwelgen in diesen „Männlichkeiten“: knappe Sportshorts zu freiem, natürlich muskulös-definiertem Oberkörper, Anzug und Krawatte, enge Jeans oder Kilt und ein bisschen Camouflage. Geht alles. Genauso wie der gute, alte Griff in den Schritt und artverwandtes Imponiergehabe.
Nur stimmt das alles so gar nicht. Alle tragen hier einen Bart, auch die Tänzerinnen. Blaubart ist jede und keiner. So, wie in dieser „Rolle“ die Tänzerinnen blenden, tun es auch die Tänzer selbst. Ironische Brechungen zeigen, wie unernst diese Männlichkeit gemeint ist. Heteronormativität, sie wird hier mit Freude zu Grabe getragen. Das ist camp. Das ist unbekümmert. Und das ist selbstbewusst. Vom ersten Moment an ist klar, wie viel Spaß es dem Ensemble macht, diesen Diskurs um toxisches Miteinander und Kontrollzwang zu dekonstruieren. Kein Bock auf dröge Geschichten. So what?
Urvil Shah tritt verschmitzt grinsend ans Mikrofon und spricht zum Publikum. In Wirklichkeit bewegt er nur die Lippen. Den Ton liefern die Kollegen aus der Technik. Shah macht expressis verbis klar, dass eben niemand auf der Bühne Lust hat, diese alte Story durchzukauen. Was hat denn ein so junges Ensemble auch mit sexistischem Mist am Hut? Genau deshalb ist es eine elegante Lösung, sich darüber lustig zu machen. Und das tun die Tänzer*innen so spielerisch wie amüsant. Reihenweise befördern sie sich in leichtfüßig choreografierten Duos wahnwitzig gegenseitig ins Jenseits, dass es eine Wonne hat. Dazu braucht es nicht mal Musik.
Konstruierte Identitäten
Was hier genussvoll zerlegt wird, sind Lügen der Oberfläche, Lügen um konstruierte Identitäten, die keinem kritischen Blick standhalten. Es ist die Fassade, die bekanntlich so oft einzig dazu dient, dahinter Dinge zu verbergen, die gern mal zu Geheimnissen hochgejazzt werden. Diese Geheimnisse versteckt Blaubart bekanntlich in seinem Haus, in das sich das zu Beginn gar nicht vorhandene Bühnenbild schließlich auch noch verwandelt. Damit nimmt dieses Tanztheater die Sache im Kern trotzdem ernst, entscheidet sich aber eben für einen leichtfüßigen Umgang damit.
Der Gedanke, die eigenen Geheimnisse könnten ans Tageslicht kommen und man selbst würde damit „erkannt“ werden, das treibt nicht wenige Menschen um. Aber gerade erst dadurch wird es ja so schwer, man selbst zu sein. Das zeigen die Tänzer*innen unmissverständlich. Deshalb darf auch keiner dem Bart des anderen zu nahe kommen!
Irgendwann aber ist der Bart ab, ganz wörtlich, zumindest bei Marie-Louise Hertog. Die Kostüme verschwinden, übrig bleibt nur olle Unterwäsche in Feinripp. Bei manch einem ist das das einzige Geheimnis im gesamten Leben. Hier ist es die bloße Wahrheit als der endlich erreichte Zustand, der einzige Zustand, den zu leben es sich lohnt. Das Ensemble lässt einfach alles los. Dem kann man im Publikum nur folgen.
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