Im Wind wiegende Dämonen
„Vincent“ von Jörg Mannes mit dem Ballett Magdeburg sucht und findet Bilder für das Leben und die Kunst Vincent van Goghs
Doppelabend „Carmen/ Morgenröte eines Stiers“ von Jörg Mannes und Jeroen Verbruggen in Magdeburg
Die Geschichte von Carmen ist ja eine vielfache Tragödie. Da ist zum einen der Inhalt des Stoffes mit dem Mord an einer Frau aus purer Eifersucht, heute würde man Femizid sagen – auch in Deutschland ist bei ermordeten Frauen der Täter auch heute meist der (Ex-)Partner.
Die zweite Tragödie ist die des Opernkomponisten Georges Bizet, der 1875 kurz nach der desaströsen Uraufführung im Alter von nur 36 Jahren starb und den Welterfolg seiner „Carmen“ nicht mehr miterleben konnte. Auch die musikalische Bearbeitung für das Ballett, die „Carmen-Suite“von Rodion Schtschendrin von 1967, die bisweilen wie ein Remix daher kommt, fiel bei den zuständigen Sowjet-Größen durch. „Carmen“: ein Trümmermeer der Unverstandenen, wohin das Auge blickt.
Deutliche „Carmen“
Alle obigen Aspekte nimmt Jörg Mannes, Ballettdirektor in Magdeburg in den Blick für seinen Doppelabend „Carmen/ Morgenröte eines Stiers“. Wobei er den zweiten Teil dem Choreografen Jeroen Verbroggen überlässt und sich selbst die „Carmen“ vornimmt – mit der Musik von Schtschendrin, gespielt von der Magdeburgischen Philharmonie unter der Leitung der scheidenden Generalmusikdirektorin Anna Skryleva. In Magdeburg hatte in diesem Jahr bereits die gleichnamige Oper Premiere, und das Ballett komplettiert nun den Carmen-Reigen.
Femizid, das ist das Thema, und Mannes erzählt es mit seinem Ensemble schnörkellos und bildgewaltig. Schon zum Start ist alles klar: Am Boden liegt Carmen (Chiara Amato), auf der Bühne steht alleine der Mörder Don José (Marco Marangio), ein riesiger runder Spiegel ruht im Hintergrund, und ein einzelnes, rotes Seil ragt aus dem Schnürboden herab. Rot und schwarz sind die dominierenden Farben des Abend, und von einer wie auch immer gearteten Flamenco-Leichtigkeit wird hier nichts zu sehen sein.
„Carmen“ als Alltagsbeschreibung eines Mordes. Amato und Marangio leisten hier ganze Arbeit. Sie kommt daher wie eine Brünhilde, die ihren Gunter nicht mal schräg von der Seite anschaut, sondern eigentlich nur ignoriert und abwimmeln will. Das geht bis in die tänzerischen Feinheiten, wo sich eine Harmonie nicht einstellen will, selbst einfache Parallelfiguren scheitern hier formvollendet. Zumal sie ihn klar in der Hand hat, wenn sie etwa ihren Fuß auf seine Brust stellt und durchweg zwischen Dominanz und Ignoranz wechselt. Lediglich im Gefängnis gibt sie sich lasziv, um ihn zu ihrer Freilassung zu bewegen. Marangio gibt dazu erfolgreich den naiven, ja im Grunde hörigen Stümper, der dann vor Eifersucht ganz rasend wird, wenn Carmen dem Torero Escamillo (Joshua Hunt) in den Armen liegt. Er lässt sie nicht los und dass er sie schlussendlich erwürgt, ist zwar folgerichtig, aber auch kraftmäßig rätselhaft. Hunt als Escamillo hat einen tollen Auftritt, in dem die Welt ihm buchstäblich zu Füßen liegt und in geradezu affektierten Gesten anhimmelt. Mannes entscheidet sich für die übergroße Form, was dem Einmarsch fast schon eine ironische Note verleiht. Etwas blass bleibt Anastasiya Kuzina als Micaëla, die hier unklar eingeführt wird und keinen Raum hat, sich wirklich zu entwickeln.
Denn Mannes will eben keine Privattragödie erzählen, sondern betont in seinen Bildern zum einen die Stärke der Frauen, aber eben auch die gesellschaftliche Gewalt der Männer. Die großen Frauenszenen um Carmen kommen daher wie wahre Walpurgisnächte mit mystischen Ritualformeln, die eine Gegenmacht zu beschwören scheinen. Doch vereinzelt sind sie den Männern ausgeliefert: Durch ein Meer von roten Stricken aus dem Bühnenhimmel ziehen die Tänzer gegen Ende die „leblosen“ Tänzerinnen, die sie in der Szene zuvor ermordet haben. Ein starkes, fast schon plakatives Bild, das genau wie der Rest der choreografischen Arbeit keinen Zweifel aufkommen lässt, was hier gerade verhandelt wird.
Die Musik gibt der „Carmen“ zudem einen äußerst modernen Anstrich, mit ihren Ausflügen in Xylophon und Marimba-Gefilde und gekonnte Re-Arrangements der Ohrwürmer-Hauptthemen. Stehende Ovationen am Ende für eine deutliche, klare, unmissverständliche „Carmen“.
Undeutliche „Morgenröte eines Stiers“
Der zweite Teil des Abends, „Morgenröte eines Stiers“, choreografiert von Jeroen Verbruggen, verlässt das klare Narrativ und begibt sich auf eine Art Sinnsuche auf den Spuren von Georges Bizet. Verbruggen hat als Tänzer unter anderem mit Marco Goecke gearbeitet, tanzte bei Les Ballets de Monte-Carlo und ist seit 2014 als Choreograf aktiv unter anderem in Genf, Nürnberg, Karlsruhe und Marseille. In Magdeburg ist es sein erster Auftritt, und er entscheidet sich für eine Musikauswahl, die mit Caroline Shaw, Antonín Dvořák, Peter Warlock, Gloria Coates und Leroy Anderson deutlich zeitgenössischer verortet ist. Gleich zu Beginn jagen Shaws Geigenschreie mit ihren atonalen Färbungen aus dem Orchestergraben und setzen zusammen mit dem blau-weißen Licht eine andere Temperatur. Die Tänzer*innen sind in schwarz-weiße Sporttrikots gewandet, in der Mitte steht eine Statue, am Rand fließt ein blau-marmorner Stoff auf die Bühne, und es gibt eine große, leuchtende Zielscheibe.
Wichtigstes Requisit aber ist ein großes Stahlgerüst in Form eines Stiers, in das die Tänzer*innen klettern können und das von ihnen bewegt wird. Alle huldigen der Statue, die schließlich zum Leben erweckt und so einen ersten fulminanten Aha-Moment bildet, zumal gleich darauf Fiametta Gotta mit der Maske eines alten Mannes auf die Bühne stürzt und nun das Heft in die Hand nimmt, die Gruppen dirigiert, mal hochgehoben, mal verschmäht wird, aber eben der Künstler ist, um den es hier offenbar geht. So lehrt sie vom Rest der gestürzten Statuen eine Choreografie, die am Ende – nach dem potenziellen Tod des Künstlers – wieder aufgegriffen wird. Ein Tänzer wird mit einem roten Tuch blind gemacht. Der Tier fährt hin und her, und eine Fahne, die zunächst als Schwanz dient, wird immer wieder hin und her gewedelt, als wäre man bei einem Stück von Moritz Ostruschnjak. Doch nach einem bildstarken Start zerfasert die Choreografie mehr und mehr. Es fehlt an einem dramaturgischen Rhythmus, an den wirklich klar gesetzten Punkten in dieser ja bewusst assoziativ gebauten Arbeit.
So fahren etwa vier Gitterstäbe herunter (auch ein Zitat an die „Carmen“ zuvor?), schaffen Distanz, erzählen aber wenig. Auch die Blendungsszene, wenn dem Tänzer die Augen verbunden werden, führt im Grunde zu keiner Eskalation, sondern ist nur ein Element mehr in diesem wabernden Bedeutungsüberschuss, der auf der Bühne ziellos vor sich hin mäandriert. Selbst starke Bilder wie die Eroberung des Stiers durch den Künstler fallen da kaum noch auf, auch weil ein Spannungsfeld zwischen Künstler und Stier nicht konsequent etabliert wurde.
Am Ende steckt die Fahne in der übergroßen Dartscheibe (die ansonsten keine Rolle spielt). Immerhin ein Bullseye. Beim Rest sitzen die Pfeile aber weit verstreut und mitunter neben der Scheibe. Höflicher Schlussapplaus mit sogar einzelnen Buhrufen. Gerade nach einer musik- und bildstarken „Carmen“ geht so ein streckenweise verrätseltes, undeutliches und unentschiedenes Stück einfach unter.
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