„Chronicles“: „Force Majeure“ von David Raymond & Tiffany Tregarthen

Zeitgenossenschaft

„Chronicles“ feiert das zehnjährige Bestehen des Hessischen Staatsballetts

Nicht kleckern, sondern klotzen: In Wiesbaden wird deutlich, was der status quo des dortigen Balletts bietet. Kein Wunder, dass da die Wünsche ins Kraut schießen, was noch alles ginge.

Wiesbaden, 18/02/2025

Nur im Rhein-Main-Gebiet liegen gleich drei Staatstheater dicht beieinander, in einem Umkreis von nur 50 Kilometern: Mainz, Wiesbaden und Darmstadt. Bis vor zehn Jahren hatte jedes dieser Häuser seine eigene, unabhängige Tanzsparte. Dann trafen König Zufall und Veränderungslust aufeinander: In Darmstadt und Wiesbaden zogen gleichzeitig neue Intendanten ein, die gemeinsam den Plan für ein Hessisches Staatsballett ausheckten. Es sollte künftig beide Häuser bespielen, zu einem hohen Preis: der Aufgabe beider selbständiger Sparten. Inzwischen ist die aufwendige Logistik, mit deren Hilfe die neue Kompanie ihre Gunst möglichst gleichmäßig auf die beiden Kooperationspartner verteilt, Routine geworden.

Im Gründungsvertrag für das Hessische Staatsballett wurde der Künstlerische Leiter gleichzeitig als Chefchoreograf zur Schaffung von Handlungsballetten verpflichtet. Viel ist seitdem passiert in der Kompanie, die heute radikal zeitgenössisch arbeitet. Schöne getanzte Geschichten gibt’s längst nicht mehr im Repertoire, und wer hochkarätigen Spitzentanz in theatralisch perfekter Inszenierung sehen will, der muss über den Rhein nach Mainz fahren. Hier schreibt die freie Delattre Dance Company (angedockt an die Mainzer Kammerspiele) seit zehn Jahren Ballett-Erfolgsgeschichte. Im Mainzer Staatstheater dagegen, wo Martin Schläpfer einst den Grundstein für ein „Mainzer Ballettwunder“ legte, hat Tanzchef Honne Dohrmann in den vergangenen zehn Jahren ein neues Produktionsmodell für zeitgenössischen Tanz etabliert. Selbst ohne tänzerischen Hintergrund, lädt er wechselnde Choreograf*innen zur Arbeit mit „tanzmainz“ ein – ein Erfolgsmodell, das bereits mehrfach mit dem Faust-Preis belohnt wurde.

Ein Kurator als Kopf des Ganzen

Auch in Wiesbaden choreografiert der Leiter des Hessischen Staatsballetts, Bruno Heynderickx, nicht selbst, und seit drei Jahren gibt es keinen Hauschoreografen mehr. Hier ist nun Kerngeschäft, was im Gründungsvertag als attraktive Ergänzung gedacht war: die Arbeit eines Kurators, der passende Gastchoreograf*innen aussucht. Der erste Direktor des neu gegründeten Ensembles, Tim Plegge, kam zwar der Verpflichtung zur Schöpfung von Handlungsballetten höchst erfolgreich nach, fremdelte aber mit den nicht-künstlerischen Aufgaben in seiner Position. Freiwillig wechselte er die Leitung mit seinem Kurator Bruno Heynderickx; am Ende ließen ihn seine angeschlagene Gesundheit und Corona gänzlich aufgeben. Der neue Chef hat die Kompanie seitdem radikal zeitgenössisch aufgestellt. Der Erfolg gibt ihm recht: Die Liste der Choreograf*innen, die bislang seiner Einladung folgten, umfasst illustre Namen wie Ohad Naharin, Crystal Pite oder Damien Jalet neben aufsehenerregenden Senkrechtstartern wie Nadav Zelner und den Geschwistern van Opstal – um nur einige Namen zu nennen. Der wichtigste Beweis für das Angekommen-Sein in der Moderne ist die Abstimmung des Publikums mit den Füßen: Die Tanzvorstellungen sind in Darmstadt regelmäßig ausverkauft, in Wiesbaden nahe dran.

Vor diesem Hintergrund scheint es nur logisch, dass die erste Dekade in Wiesbaden mehr mit dem Blick nach vorne als zurück gefeiert wurde: „Chronicles“ ist ein „Best on“ statt eines „Best of“. Sieben Choreograf*innen für sechs kurze Stücke, darunter vier Uraufführungen, umfasst das ehrgeizige Programm dieses Tanzabends. Mit der Einladung von Leïla Ka, das heißt der Neueinstudierung ihres preisgekrönten Stückes „Bouffées“, (Premiere 2022 in Paris), hätte Heynderickx das Publikum dennoch um ein Haar überfordert. Dreizehn Minuten können lang werden, wenn anfangs fast nichts passiert – auch wenn dieses „fast“ es in sich hat. Fünf Frauen in Blümchenkleidern stehen stumm und ohne akustische Kulisse unter fünf Scheinwerfern, fassen sich in Zeitlupe an den Kopf und ringen langsam die Hände – einzeln, nacheinander, gleichzeitig – jede für sich und doch zusammen. Demonstrative Hustenattacken im Publikum waren ein klares Indiz für aufkommenden Unmut. Aber dann … der hörbare Atem der Fünf macht den Unterschied. Er mündet in gemeinsame rhythmische Stoßseufzer, die den Resonanzraum für explodierende Trauer bilden. Vergessen ist das anfängliche Fremdeln – am Ende wird das Stück vom Publikum lauthals gefeiert.

Anfängliches Befremden, später Jubel

So geht es ja des Öfteren zu bei der Rezeption von ungewohnter, neuartiger Ästhetik im zeitgenössischen Tanz: Je größer das anfängliche Befremden, desto lauter der spätere Jubel. Überhaupt sind die Zuschauer*innen an diesem Abend in Festlaune. Ein bisschen Gala-Stimmung kommt auf, wenn eine Nummer quasi die nächste jagt und Albert Horne am Pult im Orchestergraben souverän das musikalisch weitgefächerte Spektrum (von Debussy über Minimal Music bis Górecki) ausreizt.

Spürbare Faszination geht vor allem von den beiden abschließenden Arbeiten für größere Besetzungen aus, die beide auf konträre Weise das Spanungsfeld zwischen Individuum und Gruppe aktuell ausleuchten. Die serbisch-niederländische Choreografin Dunja Jocić ließ zehn Tänzer*innen in weißen Jumpsuits mit schwarzen Applikationen von Harness bis Schürze in „Moonfall“ futuristisch daherkommen – kraftvoll mit dem am weitesten gefächerten Bewegungsvokabular dieses Abends. Ihren Namen sollte man sich merken. Der Spanier Fran Diaz ist schon dabei, sich einen Namen zu machen; er gilt als intellektueller Tüftler, der abstrakte Überlegungen originell in Tanz ummünzt. In „The Mass Ornament“ zeigt er ganz tröstlich, dass individuelle Ansprüche und gemeinschaftlicher Zusammenhalt auch unter den Anforderungen an eine moderne künstlerische Massenproduktion funktionieren.

Ansonsten gab es noch einen Auszug aus der Auftragsarbeit „Force Majeure“, die das Choreografen-Paar David Raymond & Tiffany Tregarthen für die Kompanie erarbeitet hatte, sowie eine zeitgenössische Referenz an einen Ballett-Klassiker, „Fauno“ von Liliana Barros. Anouk von Dijk schließlich stellte die grundlegenden Fragen nach Musik, Tanz und Raum in einem kunstfertigen Trio zu zwei sehr unterschiedlichen Musikstücken („Holding Space“).

Die Zukunft hat schon begonnen für das Hessische Staatsballett – wenn es nach Bruno Heynderickx geht, wäre ein nächstes lohnendes Ziel die Befreiung der Tänzer*Innen aus dem Keller, in dem die beiden Wiesbadener Ballettsäle liegen. Warum nicht größer denken und ein Tanzhaus planen? Ganz Hessen hat schließlich noch keines. Es wäre ganz nebenbei äußerst nützlich, wenn in absehbarer Zukunft die Renovierung des Wiesbadener Haues ansteht.

 

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