„The Pulse of the Stone“ von Helge Letonja

Klingende Steine

„The Pulse of the Stone“ von Helge Letonja am Pfalztheater Kaiserslautern

Rituale der Zugehörigkeit und ein Loslösen von der Erdenschwere. Nebeneinandergestellt ergibt das einen wunderbaren Abend.

Kaiserlautern, 03/03/2025

Die neue, titelgebende Choreografie „The Pulse of the Stone“ des gleichnamigen Tanzabends von Helge Letonja appelliert an die Sehnsucht nach Ritualen, nach Zugehörigkeit, Zusammenhalt und Bindung, wie sie in erdig-archaischen Riten. Eine Gesellschaft, in der Individualität hochgehalten wird, im Namen der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der Anspruch auf individuelle Freiheit verabsolutiert wird, jedoch Vereinsamung, Niedergeschlagenheit und (zwischen)menschliche Kälte nicht als die Kehrseite derselben Medaille wahrgenommen werden, diese Gesellschaft ignoriert die Unwucht, in die sie sich hineinmanövriert hat.

Im intensiven Austausch mit der Musik und den Tänzern des Pfalztheaters Kaiserslautern bleibt Letonja nicht in ästhetischen Formen stecken, sondern sucht nach physischen Handlungsabläufen, einem Tasten, Schieben, Drücken, Knicken, Brechen und Biegen, das sich als kinetische Energie im Raum manifestiert. Vergleichbar sei dies mit Steinen, die ins Rollen kommen, mit der Arbeit des Bildhauers oder mit Aggregatzuständen von fest über flüssig bis flüchtig.

Der Stein symbolisiert Härte und Festigkeit, womit sich Menschen verbunden fühlen. Pulsieren, Herzschlag und Rhythmus scheinen dem zu widersprechen. An diesem Widerspruch entzündet sich die Choreografie „The Pulse of the Stone“. Durch Reiben, Streichen und Klopfen sind feine Naturklänge entstanden, die den Steinen direkt abgelauscht wurden und auch von den Tänzern, unmittelbar Kastagnetten gleich, eingesetzt werden. Dem Blick ‚Zurück zur Natur‘ entgegen bewegt sich die Elektronik. Komponiert im Sechsachtel-Takt hat sie zwei Akzente.

Verführerischer Sehnsuchtsort

Zum Steinerweichen schön öffnet sich ein überlebensgroßer Monolith, aus dessen Innenleben sich zwei Tänzerinnen schälen. Verstärkt wird deren Suchbewegung durch Gruppenaktionen in gegenläufigen Reihen, mäandernden Schlangen, Schutz suchenden Ballungen. Das Dunkel – ein verführerischer Sehnsuchtsort. Bis auf den weißen Bühnenboden lebt die Schwarz-in-Schwarz-Optik vom Glitzereffekt feiner Grafitsplitter und Lichtstimmungen, die farblich manchmal etwas zu plakativ geraten.

Zum Finale kulminiert die Musik fast unmerklich in Gesang.  Volker Klein hat das Lied in einer Fantasiesprache gedichtet. Sie basiert auf einer Mischung aus Isländisch und Gotisch – ohne identifizierbare Bedeutung klingt es nordisch und kann im Programmheft nachgelesen werden. Die ästhetische Rückbesinnung auf atavistische Ursprünge der Menschheit ist für das reizüberflutete Individuum von heute eine wohltuende Erfahrung.

Die ist neben der Einstudierung von „Préludes“ in nur fünf Wochen mit den 14 Tänzer*innen - Camilla Marcati, Maayan Goren, Shelley Stolpner, Rune Leysen, Evan Macrae Williams, Teade Abma, Yan Jun Chin, Vincenzo Rosario Minervini, Camilla Orlandi, Jo Chen Chang, Bente Wouters, Eugene Surmin, Shiri Shamai (Praktikantin) und Yotam Baruch – sowie dem Einsatz der Tanzdirektorin des Pfalztheaters, Luisa Sancho Escanero, die auch die Probenleitung übernommen hat, eine reife Leistung!

Das Immaterielle verschlingen

Eine Hymne an die fantastische Fülle fantasievoller Bewegungs-Einfälle ist „Préludes“ zur gleichnamigen Musik der 24 Préludes op. 28 von Frédérique Chopin. Das Spannende an der Musik des Romantikers: Chopins schwebende Leichtigkeit und sein Hang, sich losgelöst von jeder Erdenschwere in Tagträumen zu verlieren. Das Spannende an der Choreografie: Letonja überträgt das feinstoffliche Sublimat des Zufälligen in frische Bewegungen. Einzelne, Paare und Trios greifen mit ausladenden Arm- und Beinschwüngen in den Raum, als wollten sie das Immaterielle verschlingen. Obwohl einige der 24 Préludes zur täglichen Ballettroutine gehören, was im Laufe des Tänzerlebens nicht selten zu reflexartigen Moves und (seelenlosen) Bewegungsautomatismen führt, ist die mit Letonjas Bremer Ensemble Of Curious Nature im Coronajahr erarbeitete Kreation ein Kaleidoskop choreografischer Neufindungen, teils melancholischer, teils heiter humorvoller Bewegungsidiome, die nie gesetzt erscheinen, sondern wie zufällig  aus sich selbst entstehen und mit unermüdlicher Tanzlust ausdifferenziert werden. Ein Füllhorn der Momente: Verweilet doch, ihr seid so schön!

 

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