Ein Neuer für Hannover
Nachfolger für Marco Goecke steht fest
Hannover, Freitagnachmittag, die Sonnenseite des späten Januars. In der Fußgängerzone verlangt jemand lautstark nach Solidarität für ein freies Palästina. Schon im ICE auf dem Weg nach Hannover aber gab es selbst im Ruheabteil nur ein Gesprächsthema: der Wunsch danach, Friedrich Merz käme mit seinem Vorschlag für ein Zustrombegrenzungsgesetz nicht durch, nicht mit den Stimmen von rechts. Brandmauer, AfD, präzedenzlos. Die Empörung ist überall spürbar.
Davon wenigstens eine kurze Auszeit gönnen kann man sich in der Kestner Gesellschaft. Eine kurze filmische Flucht nach Paris, in die Kirche Saint-Eustache. Dort hat Boris Charmatz 2023 gemeinsam mit César Vayssié den Film „Transept“ realisiert, der auf seinem Solo „Somnole“ (2021) basiert. Hier läuft es in Dauerschleife. Soll heißen: Es bleibt einem genug Zeit, sich darauf einzulassen, wie Charmatz auf bloßen Füßen über die kalten Steinplatten der Basilika tanzt, mit freiem Oberkörper und einem farbig gemusterten, knielangen Rock. Das bekommt seine ganz besondere Eigenart durch Charmatz‘ unentwegtes Pfeifen. Mal ganz für sich wie im Selbstgespräch, mal durch das riesige Schiff hallende, knappe Anweisungen, dann wieder das Imitieren von Vogellauten oder Ohrwurmgaranten schmalziger Popsongs.
Die Kamera steht mal Kopf, mal lässt sie ihn um 90 Grad gedreht wie eine glatte Wand empor krauchen. Legt Charmatz die nackten Füße übereinander, wird er selbst zum Gekreuzigten. Seine Leiblichkeit ist die des Herrn. Die Kamera traut sich dafür intime Nähe. Die Beziehung, die Charmatz dadurch Stück für Stück zu dem riesigen Kirchenraum aufbaut, wird zu einem Wachsen, das einen Dialog mit den Mauern erlaubt.
Verrenkungsgefahr und "Unterirdisches"
Deutlich „handfester“ geht es gleich nebenan zu, bei der Videoinstallation „Tri Tempi“ von William Forsythe (2023). Darin versucht er, über das Handling unterschiedlicher Materialien durch deren physikalische Eigenschaften mögliche Bewegungsmöglichkeiten abzuleiten. Wer weiß, wie Forsythe die Tanz- und Ballettwelt geprägt hat, wundert sich über diese seltsam anmutenden Spielereien überhaupt nicht. Nur mit einem solchen offenen Ansatz konnte er seine eigene Sprache entwickeln. Und gleich daneben hängen zum Mitmachen ein paar choregraphic scores. Aber Vorsicht! Verrenkungsgefahr!
So aufgewärmt ist man gut gewappnet für „Unterirdisches“: Die Niki-de-Saint-Phalle-Promenade ist deutlich weniger einladend als ihr Name und liegt eine Ebene unter der Fußgängerzone gleich am Hauptbahnhof. Findet man zwischen Handyreparaturshop und Pommesglück den Laden mit der Nummer 51, ist man genau richtig bei der Pop-up-Performance der Choreografin Mónica García Vicente und des Fotografen Irving Villegas. Mit dieser „installativ-choreografischen Spurensuche“ unter dem Titel „Trazos“ schicken sie in einem schwarz-weißen Setting voller collagierter Fotografien die Tänzerinnen Luana Rossetti und Sara Ezzell in einen performativen Dialog, der sich in seinem Contemporary-Material großzügig und ohne Scham an die große Geste des Ausdruckstanzes anlehnt. Aus dem Off ein paar schroffe Klaviertöne, ein bisschen spoken word. Dabei immer wieder „ricercare“, suchen. Diese Suche ist auch eine Suche nach Vereinigung, Verbindung, die so weit geht, dass eine der Tänzerinnen direkt in das Kostüm der anderen kriecht, während jene noch immer selbst drinsteckt.
Verbundene Elemente dann auch direkt danach, draußen. Eine Demo zieht friedlich vor dem Bahnhof vorbei, während man selbst schon weitereilt, zur nächsten Performance im Ballhof. „Wogegen oder wofür wird denn protestiert?“ Am Straßenrand einiges Schulterzucken. „Gegen die AfD. Und die CDU. Wahrscheinlich.“ Den recht kurzen Weg bis zum Ballhof hat man kaum Gelegenheit, diese beiden Zutaten auf einmal zu schlucken. Wohl dem Festivalerfahrenen, der immer eine Flasche Wasser dabeihat. Immerhin ist zu jenem Zeitpunkt klar: Merz hat seinen Vorstoß gegen die Wand gefahren.
Das klingt noch nach, wenn Michael Turinsky in Jeanslatzhose und massivem Hammer im Gürtel sich nach einem Ort sehnt, an dem er sich zuhause fühlt. Er fühle sich wohl in der Welt, meint er, nicht aber unbedingt in seinem Land. Sehr wahrscheinlich, dass er damit Österreich meint, schließlich ist er in Wien ansässig. Mit „Work Body“ schlägt er eine Kerbe in den Kapitalismus einer Leistungsgesellschaft, deren Arbeitsmarkt für körperlich eingeschränkte Menschen wie ihn keine Anknüpfungspunkte bereithält. Das macht er auch gleich mehr als deutlich: Er verräumt einzelne Tische, die über den gesamten Saal verteilt sind, und fügt sie zu einem größeren Podest zusammen. Aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen benötigt er dafür ein Vielfaches mehr an Zeit als die meisten Besucher im Publikum bräuchten. Das als sinnstiftenden Teil der Performance zu erkennen, dafür braucht es, Überraschung: Zeit. Und Offenheit. Wabernde, flirrende Sounds halten die dafür nötige Dramaturgie zusammen.
An den Rändern des Tanzes
Da wird schnell klar, das hat mit Tanz, wie man ihn sich zunächst vorstellt, so gar nichts zu tun. Warum dann also eine solche Art der Performance bei einem Tanz-Festival? Melanie Zimmermann, künstlerische Leiterin des Festivals, überlegt nicht lange: „Er ist ein richtig guter Künstler.“ Die Ausrichtung des Festivals liegt, so erklärt sie im persönlichen Gespräch, nicht auf einer starren Definition des Begriffs Tanz. Melanie Zimmermann spricht hier einfach von Choreografie. Und der Begriff lässt sich natürlich weit fassen.
So fällt es leicht, Arbeiten wie eben „Work Body“ zu integrieren. Und dem Publikum fällt es leicht, über solche Grenzen nachzudenken. Michael Turinsky hilft da auch ein bisschen nach. Ganz wie „bei Kalle uff’m Bau“ gibt’s Bier für alle aus der Schubkarre. Okay, nicht nur Bier. Auf dem Bau sind wir dann eben doch nicht. Der Gestus aber ist klar. Wie könnte sich Michael Turinsky in einer solchen, von Heteronormativität geprägten Umgebung integrieren?
Darüber reflektiert er, ins Mikro, die Stimme per Autotune verzerrt. Seine Worte gehen nahtlos über in Gesang. „Thank you, life!“. Er stellt sich selbst aus auf jenem Podest, macht seine persönlichen Grenzen zum Gegenstand der Reflexion. „I’m making. I’m aching“, singt er. Und er fragt, ob es heute nicht vielleicht einfacher wäre, sich als queer zu outen denn als Kommunist. Am Ende aber beißt er sich durch. Mit einem Bohrhammer zertrümmert er die Deckplatte eines Betonklotzes, in dessen Innerem ein kleiner, rotblühender Rhododendron zum Vorschein kommt.
Was Merz über den Kommunismus denken mag, will man besser gar nicht wissen. Da ist es gut, dass gleich im Anschluss zwei Türen weiter die Performance „1GUH WATCH“ zu einer Dancehall-Show lädt. Gute Vibes, die Lässigkeit der Karibik vermischt sich mit der Coolness des Hip-Hop. Auf dem Programm die Namen Dynamic Legends, Miss Rose, Damion BG, Dj Pappi, eye juice, Kaybuurr Ovadose und Tamara Alegre. Da kann nix schiefgehen. Die Stimmung sitzt, das Publikum leider auch. Wie das eben so ist, wenn man eine so gemeinschaftliche Sache wie Dancehall-Spontankreationen einem klassisch arrangierten (Theater-)Publikum präsentieren will. Der Funke kann nur bedingt überspringen. Trotzdem sind alle angesichts der Ausgelassenheit der Tänzerinnen und Tänzer aus dem Häuschen. Und individuelle Sichtweisen darauf, was das Tanzen für einen selbst bedeutet, gibt’s auch noch frei Haus. „Dance is Liberation“, meint da der eine. Und ein anderer: „In dancing I can represent where I come from, right from the top of my chest.“ Besser kann man es wohl nicht auf den Punkt bringen. Dann endlich: open floor! Niemanden hält es mehr auf den Stühlen. Alles tanzt, die künstlerische Leiterin mittendrin.
Auf dem Nachhauseweg sind die Straßen fast leer. Nichts klingt mehr nach Zustrombegrenzungsgesetz. Da haben die Festival-Macher ganz offenbar alles richtig gemacht.
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