„Fall“ von Sidi Larbi Cherkaoui, Tanz: Ensemble TANZ LINZ

„Fall“ von Sidi Larbi Cherkaoui, Tanz: Ensemble TANZ LINZ

Überraschendes Cherkaoui-Repertoire

Tanz Linz am Musiktheater: „Fall“ aus dem Jahr 2015 und „Orbo Novo“ von 2009

Das war nun doch nicht zu erwarten: Sidi Larbi Cherkaoui kann auch Neoklassik, und die Neurowissenschaft hatte es ihm vor vielen Jahren schon angetan.

Linz / Musiktheater Linz, 04/03/2025

Beim Einführungsgespräch mit Tanz-Direktorin Roma Janus betont Sidi Larbi Cherkaoui, dass er so gut wie nie zwei Stücke gleichzeitig an ein Ensemble weitergibt. Und noch dazu zwei so vollkommen gegensätzliche wie „Fall“, das er 2015 für das Ballet van Vlaanderen entworfen hat, um das klassische Ensemble in seinem Tanzvermögen auf neue Wege zu führen. „Orbo Novo“ (Neue Welt) wiederum mit dem mittlerweile nicht mehr existierenden Cedar Lake Contemporary Ballet 2009 geschaffen, spielt mit tanztheatralischen Elementen, verwendet viel gesprochenes Wort und nutzt die physischen Möglichkeiten in extrem-virtuosen, artistischen Moves einzelner Solisten.

Zwei Seiten aus Cherkaouis Werkkatalog nun doch am Premierenabend in Linz, mit viel Verve einstudiert von Cherkaoui und Acacia Schachte, die in beiden Kreationen als Tänzerin dabei gewesen war. Das Stück Nummer 1 ist 40 Minuten lang, Stück Nummer 2 an die 70 Minuten, eigentlich ein abendfüllendes Werk, aber Linz gibt es nicht billig. Mehr als 100 Minuten sind exakt dieselben sechzehn Tänzer*innen auf der Bühne und haben vor allem in der von sanften Luftbrisen durchzogenen, leicht wirkenden, verschlungen anmutenden Poesie Aufgaben zu bewältigen, die sie bisher noch nicht gestellt bekommen haben. Neoklassische Allüre, präzise positionierte Füße, Lautlosigkeit, Synchronizität. Und dann wie kontrapunktisch feinste Duo-Verschraubungen à la Cherkaoui mit fast anekdotisch, parfümiert anmutenden Ports des bras, komplexe Hebe- und Fallfiguren, Verknotungen mit dem Partner, Abgang kopfüber nach hinten unten Richtung Boden.

Die feine musikalische Wahl liebt das Publikum, die Tänzer*innen müssen auch da Sorge tragen, im Fluss zu bleiben; es handelt sich immerhin um Arvo Pärts fragile Kompositionen „Frâtres“, „Spiegel im Spiegel“ und „Orient & Occident“. Nicht weniger intensive Aufmerksamkeit verlangen die Pärtschen Gespinste vom an sich versatilen Bruckner-Orchester unter Marc Reibel, der auch am Klavier sitzt. Nach intensivem Applaus und Pause für das Ensemble folgt der Kontrast: dunkle Bühne, verschiebbares, bekletterbares Gerüst, das einengen und beschützen kann und wohl symbolisch als Gefängnis steht für die Auswirkungen eines Schlaganfalls, den die bekannte Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor in ihrer Publikation „My Stroke of Insight: A Brain Scientist's Personal Journey“ schildert. In acht Jahren gelang es ihr aufgrund ihrer Kenntnisse, ihre Gehirntätigkeit zu reparieren und aus dem Erlebnis eines „euphorischen Nirvanas“ der rechten Gehirnhälfte ihre linke zu rekalibrieren. In der Inszenierung wird klar zitiert und von Grenzen gesprochen, tänzerische Aktionen unterstreichen Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit. Immer wieder stehen Akte der Vermittlung, des Verständnissuchens im Mittelpunkt. Der polnische Komponist Szymon Brzóska erweiterte für die Linzer Neueinstudierung seine sehr harmonischen, abschnittweise eingesetzten Orchesterparts. In der insgesamt doch herausfordernden Kombination dieses Premierenabends hätte „Orbo Novo“ eine Kürzung durchaus vertragen.

Abgesehen davon hat Tanz Linz mit einem enormen Energie-Potenzial und großer Wandlungsfähigkeit bewiesen, dass sich Campo, Bisci, Cogliandro, Dergousoff, Hall, Huang, Illnar, Lodolini, Mattiazzi, Povraznik, Ruta, Sicilia, Stroh, Taira, Tayette und Wijsman, ergänzt in „Fall“ noch durch sechs Nachwuchstänzerinnen, nicht unterkriegen lassen. 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern