Enttäuschende Weltpremiere
(LA)HORDE eröffnet das Sommerfestival auf Kampnagel
Es waren wie immer Superlative, die der bekanntlich von keinerlei Selbstzweifeln angekränkelte Festivalleiter András Siebold wieder einmal in Hülle und Fülle bemühte. Schon im aktuellen Newsletter heißt es in gebrochenem Deutsch, das Festival sei „Hamburgs Rache am guten Theatergeschmack und Garant für die extravagantesten Sommernächte wo gibt“. Bei der Eröffnung am Mittwochabend setzte Siebold dann noch eins drauf: In diesem Jahr biete man „eines der besten Festivals der vergangenen Jahre“, mit einem „unvergleichlichen Programm“. Und man eröffne es „nicht einfach mit einer Produktion, die man sonst auch in Salzburg, Edinburgh oder bei den Wiener Festwochen sehen“ könne (!), sondern „mit einer Produktion, die es ohne das Sommerfestival nicht gäbe“. Man öffne damit „das Geschichtsbuch der Avantgarde und schreibe es noch ein bisschen weiter“.
Überhaupt die Avantgarde: Das Festival sei „die Tanzzentrale der Avantgarde“, schreibt Siebold im Editorial des Programmheftes, es sei ein fast dreiwöchiges „Kraftwerk sozialer und künstlerischer Energie für die Welt von morgen“. Auf Kampnagel und an vielen weiteren Orten in der Stadt zeige sich, so heißt es in der Pressemitteilung anlässlich der Eröffnung, „mit zukunftsweisenden Arbeiten“ aus Tanz, Theater, Performance, Musik, Film, Literatur, Live Art, Installation, Bildender Kunst und Partys, „wie die Avantgarde den state-of-the-art der internationalen zeitgenössischen Künste“ definiere: „Das Sommerfestival verbindet die Geschichte der Avantgarde mit der Zukunft der Bühnenkunst: weltempfänglich, sensibilisierend und mit viel Humor“, so Siebold.
Nun denn. Die Anspielung auf die Geschichte der Avantgarde bei der Eröffnungsproduktion kommt nicht von ungefähr. Gemeint ist die Grande Dame des abstrakten modernen Tanzes, die nach zehnjähriger Abstinenz wieder in Hamburg auf der Bühne zu sehen ist: Lucinda Childs, von Siebold vollmundig als „die seit 60 Jahren Tanz-Avantgarde-Geschichte prägende Jahrhundertchoreographin, eine der größten der Gegenwart“ bezeichnet, ist mit ihrer siebenköpfigen Kompanie eigens nach Hamburg gereist, um hier anlässlich des Sommerfestivals vier neue Kreationen aus der Taufe zu heben: „Four New Works“ – eine Weltpremiere auf Kampnagel.
Ein Bogen von den 1960er Jahren bis heute
Die inzwischen 84-Jährige, eine beeindruckende Persönlichkeit von fast aristokratischer Strenge, schließt in diesen knapp anderthalb Stunden an ihre Anfänge Mitte der 60er Jahre an. Am Anfang steht ein kurzes Stück für zwei Tänzerinnen: „Actus“ zu „Actus Tragicus“ für Klavier von Johann Sebastian Bach (in einer Aufnahme mit Takahashi|Lehmann vom Band). Es ist wie eine Art Einführung in die kreative Kunst Lucinda Childs‘, eine meditative Etude. Auf einem eng begrenzten Raum der rundum abgedunkelten Bühne, nur sparsam beleuchtet, entwickeln die beiden nacheinander und später gemeinsam eine ebenso schlichte wie immer wieder neu abgewandelte, ineinander verwobene Bewegungsfolge, die in ihrer zurückgenommenen Strenge eindrucksvoll die fast schon mathematische Konsequenz der Musik spiegelt.
Danach gehört die Bühne Lucinda Childs selbst: Sie zeigt „Geranium ‘64“, ein Remake ihres gleichnamigen Solos aus 1965. Zuerst sieht man nur die von dem albanischen Künstler Anri Sala gestaltete, leicht gebogene, unregelmäßig grau gefleckte Videowand. Dazu ertönen monotone Klänge, die immer wieder abbrechen und neu ansetzen. Langsam, sehr langsam schält sich dann die hochgewachsene, immer noch extrem schlanke Lucinda Childs in einem mausgrauen Overall aus der linken Gasse. Wie in Zeitlupe bewegt sie sich vorwärts, mühsam nur, als müsse sie gegen ein unsichtbares Band angehen, das sie immer wieder in die Kulisse zurückziehen möchte. Und so ist es auch: Sie hängt an einer langen Leine (den Gegenzug im Off gestaltet einer ihrer Tänzer), schiebt sich vorwärts, während auf der Videowand, nur vage erkennbar, eine historische Football-Übertragung eingeblendet wird. Der Kommentator ist kaum zu verstehen, aber man begreift nach und nach, dass Lucinda Childs die Bewegungen der Spieler bruchstückhaft nachahmt, aufgreift, zu den ihren macht, immer noch extrem verlangsamt. Wie eine Last nimmt sie das auf sich, um sich schließlich auf den Boden zu legen und ein Bein lang ausgestreckt gegen die Videowand zu legen. Vorhang.
An diesem Stück wird einmal mehr deutlich, dass gerade die Klassiker der Avantgarde manchmal moderner und zeitgemäßer sind als vieles, was sich heute als Avantgarde versteht. Lucinda Childs beeindruckt in dieser auf ein Minimum reduzierten Form, in ihrer besinnlichen Strenge, die erheblich länger nachklingt, als man es nach dem ersten Sehen vermutet.
Die Kunst, im Kanon zu tanzen
Nach der Pause dann „Timeline“, ein Stück für sieben Tänzer*innen zu einer Klangcollage der isländischen Cellistin, Sängerin und Komponistin Hildur Gudnadóttir. Sie stehen auf der Bühne verteilt, jede*r in einem eigenen Lichtkegel, der nur angeht, wenn eine Bewegungsfolge gezeigt wird. Das wechselt hin und her, schließt mal zwei Tänzer*innen zusammen, mal drei, und schließlich alle, bis sich die strenge Ordnung und in einem Springen, Hüpfen, Laufen, Drehen auflöst, das aber weiterhin strikten Regeln folgt.
Hier merkt man, dass Lucinda Childs mit Merce Cunningham gearbeitet hat, diesem Großmeister der abstrakten Tanzkunst. Wie er hat sie selbst auch Tanzstücke ganz ohne Musik kreiert, und hier ist es die nahezu impulsfreie Klangcollage von Hildur Gudnadóttir, die den Tänzer*innen zwar einen Klangteppich bietet, aber eben auch kaum mehr als das. Diese Bewegungsfolgen sind deshalb allesamt fein säuberlich durchgezählt, die Muster werden immer wieder neu gegeneinander verschoben, wie in einem Kanon, und die sieben Tänzer*innen beherrschen diese Kunst grandios.
Nach einem Interlude des Pianisten Anton Batagov, einem engen Mitarbeiter von Philip Glass, live gespielt, folgt ein Werk von eben diesem Komponisten, mit dem Lucinda Childs schon seit vielen Jahren zusammenarbeitet. Dieses Stück hat er jetzt eigens für sie geschaffen: „Distant Figure“. Und hier wird die Kunst der gegeneinander und ineinander verschobenen kanonischen Bewegungsmuster von drei Tänzerinnen und drei Tänzern noch einmal aufs Feinste zelebriert. Es ist ein Kommen und Gehen, ein wellenförmiges Wogen und Weben in fast geometrischer Konsequenz, in das man sich nur zu gerne hinein versenkt.
Und so ist dieser Tanzabend gerade in seiner Reduziertheit, in seiner Behutsamkeit und Konzentration ein höchst gelungener und wohltuender Auftakt zu diesem Sommerfestival, das auch sehr viel Lautes und Schrilles und Grelles und Aggressives zu bieten hat.
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