Vier Kostbarkeiten
A.I.M. by Kyle Abraham gastiert mit „Mixed Repertoire“ in Hamburg
Schon beim Betreten der K6 auf Kampnagel kommt gute Stimmung auf: Der Saal ist hell erleuchtet, die Bühne offen, fetzige Songs schallen aus den Lautsprechern. Nach hinten wird der Raum begrenzt von einer Art Mauer, von unregelmäßigen Schrägen durchzogen. In der rechten Ecke gruppieren sich fünf unbekleidete, weiß glänzende Schaufensterpuppen um ein Münz-Telefon, von der Decke hängen neun Röhren-Fernseher. Nur auf einem läuft ein Programm – Nachrichten aus den 80er Jahren, Gorbatschow, die royale Hochzeit von Lady Di mit Prince Charles, olympische Wettkämpfe, ein Flugzeugabsturz, Umweltkatastrophen.
Unvermittelt tritt eine Frau von links auf die Bühne, mit wilder Mähne, in einem Fallschirmseiden-Trainingsanzug (Kostüm: Karen Young, Kyle Abraham). Langsam verlischt das Saallicht, und auf einmal sind alle Fernseher auf Sendung – mit ganz unterschiedlichen Programmen. Und nun entwickelt sich ein Stelldichein der besonderen Art: acht Tänzer*innen in eben solchen Fallschirmseiden-Anzügen und wilden Struwwel-Perücken kommen zusammen, begegnen sich, mal schalkhaft verschmitzt, mal gleichgültig-gelangweilt, um dann wieder auseinanderzugehen und wieder zueinander zu finden. Es ist ein Kommen und Gehen zu den großen Hits der 80er – und die Rhythmen gehen unmittelbar unter die Haut. Vielleicht vor allem denjenigen, die diese Zeit miterlebt haben.
Einer tanzt aus der Reihe
Nur einer, der neunte in der Gruppe, tanzt aus der Reihe: Er trägt keine wilde Perücke, er ist eher ein neutraler Beobachter, ein Zeitzeuge, der sich anschaut, was da passiert, ohne es zu werten, zu kommentieren. Immer wieder geistert er durch die Reihen, wie ein Außenseiter, macht sich Notizen, registriert das Gesehene. Und doch ist er ein Teil des Ganzen.
Kyle Abraham entwickelt zu der mitreißenden Musik eine eher sanfte Bewegungssprache, mit gestreckten Armen, weichen Beinen, biegsamen Körpern, die sich schlangenartig verrenken, ohne je künstlich zu wirken. Es ist alles organisch ineinander verwoben, harmonisch fügt es sich zusammen, und doch wird es immer wieder durchbrochen von abrupten Wechseln. Es sind spannende Arrangements voller Witz, Humor, Schwung, Selbstironie und Lebensfreude, während das großartige Bühnen-, Licht- und Videodesign von Dan Scully immer wieder neue Bilder produziert, eine atmosphärische Begleitung, die kongenial zum Tanz und ebenso zur Musik passt.
Irgendwann sitzt der beobachtende Mann auf dem Boden und versucht, undefinierbares Glitterzeug zu entwirren, vergebens allerdings. Erst, als er aufsteht, die langen Strippen hinter sich herzieht und mit dem Finger die typischen Drehbewegungen macht, mit dem man früher das abgespulte Band einer Musikkassette wieder aufzuwickeln versucht hat, wird klar, was das Gewirre ist: Bandsalat. Die Heiterkeit im Saal hält sich in Grenzen – zu wenige kennen noch diese Tonband-Kassetten, über die wir in den 80ern Musik gehört haben.
Spannungen in den Gegensätzen
Die großen, fantastisch getanzten Ensembles werden unterbrochen von nicht minder berührenden Soli. Eines davon bleibt besonders in Erinnerung: Eine Frau kommt mit einem Ventilator auf die Bühne und posiert davor, während sie in eigenartigem Kontrast zur fetzigen Musik ein fast quälend langsam-gedehntes Solo zelebriert, wie in Zeitlupe. Es sind Gegensätze wie dieser, die auch die Spannungen verdeutlichen, die vor gut 40 Jahren das gesellschaftliche Leben geprägt haben, vor allem der schwarzen Bevölkerung in den USA.
Kurz vor Schluss fliegen kleine bunte Flummis aus den Gassen auf die Bühne, schräge Stofftiere auch (sind die Frösche eine Anspielung auf die Idee, an deren Haut zu lecken wegen der dort vorhandenen psychotropen Substanzen?), während die Tänzer*innen dazwischen agieren – Anspielungen auf die vielfarbige Laissez-faire- Kultur und die psychedelischen Aktionen dieser Zeit mit LSD und anderen Drogen? Bis sich schließlich zwei der Tänzer*innen die Perücken vom Kopf reißen und kahlköpfig einen grandiosen, poetisch-erotischen Pas de Deux entwickeln.
Es ist gerade diese Mischung aus wilder Lebensfreude und heiter-nachdenklicher Melancholie, die Kyle Abraham zu einem sinnlichen Geflecht verwebt, das nicht nur ein Bild der 80er zeichnet, sondern vor allem die Liebe zum Tanz, zum Miteinander, zum Leben an sich. Bleibt zum Schluss nur die Frage: Wo zum Himmel kann man sich die phänomenale Playlist herunterladen?
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