Berge versetzen
Fotoblog zu „Moving Mountains” von Ursula Kaufmann
Von Rainer Beßling
Diesmal betritt zuerst das Publikum die Bühne. Fast dunkel, ruft das Podium Unsicherheitund Unbehagen hervor. Nur schwaches Licht geht von Videoprojektionen aus, in denen schemenhaft bewegte Strukturen, Schichten und Körperformen zu sehen sind. In diesem Raum muss ein Weg erst erspürt, eine Position erst gefunden werden. Unruhe und Rastlosigkeit liegen in der Luft, der Boden bietet kein Fundament. Kein Ankommen, nirgends.
Der Prolog zu Helge Letonjas neuem Tanzprojekt „Nomada“, das er mit dem Ensemble Of Curious Natur jetzt in Bremen zur Uraufführung gebracht hat, lässt in das Thema buchstäblich einsteigen. Die Ahnung vom Unterwegssein ist am eigenen Leib zu spüren. Als wäre es noch Teil unseres Körpergedächtnisses, klingt ein Echo aus archaischen Zeiträumen nach. Das Grundrauschen samt Bildstrom aus Ur-Geschichte wird die Zuschauenden das gesamte Stück auch in ihren Sitzen weiter begleiten.
Wenn die Tanzenden erscheinen, repräsentieren sie den Modus des Durchwanderns: zögerliches Schreiten, ein Aufwärts und Abwärts der Arme, Schöpfen und Beschwören, kreisendes Ausgreifen, den Eigenraum ertasten. Allesamt Gesten eines Beginnens, Erkundens und Ausgesetztseins. Begleitet wird die Körpersprache von gesprochenem Text. Vom Wissen um das zu Sagende, vom Unwissen über das passende Wort ist die Rede. Das in die Welt Kommen ist ein in die Sprache finden. Bedarf es für die Identität neben der Begriffe auch eines Bodens oder eines Ortes?
Zutiefst leiblich
Das Nomadenhafte markiert nicht nur Vorgeschichtliches, sondern auch Gegenwärtiges. In „Nomada“ klingt im letzten Drittel urbanes Gemurmel und Geräusch an, und auch der Tanz wechselt ins Zeitgenössische. „Digitale Nomaden“ – die Wendung hat sich etabliert und beschreibt verklärend die vagabundierend Daten tauschenden Belegschaften im virtuellen und physischen Globalismus. Allerdings: Privilegierte Mobilität mit Kämpfen ums Überleben begrifflich gleichzusetzen, ist mehr als problematisch. Außerdem: Jeder Flug bringt ein wenig mehr Flut. Nomaden lassen Lebensraum für Nachkommende zurück. Nomadentum ist ein vielschichtiges Phänomen, das wird auch in Letonjas Stück sichtbar. Als Denkfigur benennt es das Erweiterte, das Fluide, das über Gesetztes Hinausweisende.
In „Nomada“ zeigt es sich als Form der Vergesellschaftung, des Wirtschaftens und des kulturellen Vermögens. Von Beginn an zeigt sich in den Tanzepisoden, in den Videobildern und in den Klangsequenzen, in die Puls und Herzschlag eingespeist sind, etwas Basales, zutiefst Leibliches, an das eine tief gründende Spiritualität anschließt. Gerade die Wandernden und Wechselnden bedürfen eines immateriellen Halts. In berührenden, hoch ästhetischen Ensembleszenen versammelt sich die Gruppe um eine Schamanen oder Kündern ähnliche Leitfigur. Die Formationen beschreiben Kreise, deuten Verbindungen mit den Herkünften an. Das verweist auf Vergangenes, auf Rituelles, besitzt aber auch Aktualität, da sich darauf Suchbewegungen von heute projizieren lassen.
Verbindungssuche zu den Vorfahren – steckt das in der inflationär wachsenden Autofiktionsliteratur? Spirituelle Obdachlosigkeit – realisiert sich im modernen Nomadentum existenzielle Leere und Bindungsverlust als Unruhestifter, Mobilitätstrigger? Kann Tanz ein solch komplexes Thema erzählen? Wenn nicht er, was und wer dann? Weil Tanz als früheste Kunstform aus seiner ureigenen medialen Natur zum Wesens- und Wahrheitskern des Menschen drängt und vordringt, zum Körperwissen, zum Ort und Bewusstsein von Existenz.
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