Probe mit Marcia
Intime Einblicke beim „Training zum Zuschauen“ mit Marcia Haydée beim Staatsballett Berlin
Ästhetisches Gesamterlebnis der leisen Art
In Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice in Wonderland“ von 1865 ist nichts, wie es scheint. Selbst hinter der vermeintlichen Autorin verbirgt sich unter Pseudonym ein Mann. Nach Umsetzungen in Theater, Film, Hörbuch griff 2005 das Ballett das bühnenträchtige Sujet auf. Für die Volksoper Wien schuf damals der Italiener Giorgio Madia eine Tanzfassung, die er gekürzt dem Staatsballett Berlin übertrug. Mit der Komischen Oper steht der Kompanie endlich das unter Schilling für den Tanz so wichtige Haus an der Behrenstraße als dritter Aufführungsort zu Gebote. Und Choreograf Madia kehrt als Gast dorthin zurück, wo er 2000 beim BerlinBallett für eine Saison Ballettmeister war. In 20 teils kurze Szenen gliedert er die Handlung auf, fischt attraktive Episoden aus der Vorlage, unterfüttert sie mit Musik seines Landsmanns Nino Rota, der als Filmkomponist Weltruhm genießt, indes auch ein reiches Werk an Opern, Ballett- und Orchestermusik hinterließ. Der 3. Satz eines Klavierkonzerts als furioser Auftakt ist ein Beispiel.
Hinter dem pointillistisch getupften Baum auf einer transparenten Kurtine schaukelt dazu Alice über der Szene. Als ein Kaninchen durch ihren Garten hoppelt und in seinem Erdloch verschwindet, setzt das kesse Mädchen ihm nach. Schwerelos schwebt sie durch blaue Lichtsphären in die Tiefe, vorbei an Spielzeug, und landet in der milchigen Welt eines Zauberers. Gluckernd trinkt Alice aus dessen Phiole, schrumpft als Silhouette, tanzt mit sich im Doppel. Das enge Karnickelhaus, in das der Bewohner und der Zauberer sie quetschen, weiß sie akrobatisch zu nutzen und umzustürzen. Da fährt ein Riesenpilz heran, unter dessen Haut die Raupe mit bläulichem Hahnenkamm ihren Sitz hat. Zu jazzigen Klängen versuchen sie und ihre vier Glieder das Mädchen zum Rauchen zu verführen. Alice geht darauf ein und erlebt eine Halluzination, bei der Puschelköpfe aus den Kulissen ragen. Zunächst sucht sie in Spiegeln nach ihrem Ich, bis die zehn Pom-Poms sie mit zirkusreifem Zwei-Mann-Hoch verblüffen. Der Zauberer schwingt dazu die Peitsche.
Weitere Merkwürdigkeiten erwarten Alice im Land der Spielkarten. Dorthin folgt sie zwei Lakaien, deren einer dem anderen in atemberaubend komischem, musiklosem Sketch die Einladung überbringt. Zuvor hat sie noch Abenteuer bei einer pappnasigen Herzogin samt Köchin und Katze zu bestehen und wohnt einer skurrilen Teegesellschaft bei. Was Madia dann an revuehaften Ensembles für die Herzkönigin und ihr Gefolge eingefallen ist, gehört zu den Glanzpunkten des 90-minütigen Abends: Karten als Häuser, Guillotine, Ikarusflügel. Nach dem Auftritt des Zauberers im Varietéstil verwandeln sich im Finale fast alle, Frauen wie Männer, in Alices Doubles mit Schottenröckchen, Bluse, Hemd, Schlips. Über dem Gewirr aus Armen und Beinen der liegenden Doppelgänger schaukelt das Mädchen wieder hinter der Baumkurtine, als sei alles nur ein Traum gewesen.
Um Fragen an die Welt, die Suche nach der eigenen Identität geht es wie im Buch so auch in Madias „Alice’s Wonderland“. Gewieft macht er dazu Rotas Musik vom Galopp bis zum Charleston, meist Fellini-Filmen entlehnt, seinem Anliegen dienstbar. Dass er die Titelgestalt auf acht Tänzerinnen aufteilt, ermöglicht ganz im Sinn des Stücks verwirrend rasche Wechsel. Dass er nicht auf bloß originellen Tanz setzt, der Kinder langweilt, sondern auf kaum je abreißendes Spiel von Pantomime bis Slapstick, gehört ebenso zu den Vorzügen der fantasievollen Produktion wie das glattfarbige, souverän Aufsteller nutzende Bühnenbild von Cordelia Matthes, Bruno Schwengls weißschwarze Kostüme, deren Schnitt den ironischen Ton der Choreografie befördern hilft - und Franck Evins flirrend zauberhaftes Licht.
Madias Einstudierung, nicht frei von Längen, etwa Alices schwachem Solo zum gewaltigen Liebesthema aus „Der Pate“, bietet ein ästhetisches Gesamterlebnis, das sich durch seine Stille und Nachdenklichkeit von Actionkunst aller Couleurs absetzt und Kinder anregt, genauer hinzusehen, tiefer zu empfinden. Die springlebendig agierende Gruppe und wunderbare Komödianten, zusammen fast 50, tragen dazu bei: Vladislav Marinovs agiles Kaninchen, Michael Banzhafs hinterhältige Punkraupe, Dominic Hodals artistische Katze, Sven Seidelmanns und Arshak Ghalumjans Lakaienpaar, Iana Salenko als Ober-Alice, Martin Buczkó als Zauberer. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg kostet unter Andreas Schüller Rotas Melancholie aus.
Wieder 13., 15., 21.+22., 27., 29.9., 2.10., Kartentelefon 20 35 45 55
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