Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Fortsetzung der Hamburger Neumeier-Tage in Stuttgart mit der Wiederaufnahme der hier vor 23 Jahren uraufgeführten „Kameliendame“. Die Stadt, so scheint es, in einem wahren „Kameliendamen“-Rausch. Dreizehn Vorstellungen en suite – und alle so gut wie ausverkauft. Vier verschiedene Besetzungen. An diesem Abend in den Hauptrollen Yseult Lendvai und der noch immer zum Ensemble gerechnete Vladimir Malakhov in einem seiner raren lokalen Auftritte – in weiteren Partien Roland d‘Alesio als Armands Vater, Patricia Salgado als Prudence, Marieke Lieber als Olympia, Roberta Fernandez und Ibrahim Önal als Manon Lescaut und des Grieux, Robert Conn als Gaston Rieux und so fort – am Dirigentenpult James Tuggle, mit Glenn Prince und David Diamond als Solopianisten.
Ein Ballett, das mit seinen zahlreichen kleineren, exakt charakterisierten Rollen eine wahre Fundgrube für den Tänzernachwuchs ist. Es gewinnt in seiner doppelschichtigen Dramaturgie (mit der Verwebung der Schicksale von Marguerite Gautier und Manon Lescaut, von Realität und deren Spiegelung auf der Bühne) dem Stoff eine ausgesprochen moderne Perspektive ab, die vor Neumeier noch niemand ins Visier genommen hat.
Ist es eine ausgesprochen deutsche Perspektive? Das Ballett ist in Stuttgart, Hamburg und München ein ausgesprochener Publikumsrenner, während sich das Ausland nicht so recht dafür zu erwärmen scheint – was mir ein Rätsel ist, wenn ich darüber nachdenke, welcher internationalen Reputation sich Ballette wie Crankos „Onegin“ und MacMillans „Manon“ erfreuen, die wesentlich simpler strukturiert sind. Oder ist es gerade eben die Simplizität, welche ihre Popularität ausmacht? Das wäre sicher ein Ansatz, einmal darüber zu sinnieren, wie verschieden die nationalen Ansprüche sind, die das Publikum – und, nicht zu vergessen, die meinungsbildende Kritik – an das Ballett stellt.
Bei der Besetzung Lendvai-Malakhov wird man sich doch sehr des Klassenunterschieds zwischen beiden Tänzern bewusst. Lendvai fehlt jegliche weltstädtische Eleganz, jener Hauch von Mondänität, die Faszination unwiderstehlicher Sinnlichkeit, das Schillernde, die diese Figur so attraktiv und so ungreifbar machen. Sie tanzt gewissenhaft und durchaus rollenengagiert den choreografischen Text, wo andere die Poesie dieser Choreografie zum Blühen bringen. Marcia Haydée – und andere ihrer Nachfolgerinnen – war nie die Primaballerina des Stuttgarter Balletts (obgleich das immer wieder fälschlich behauptet wird), aber sie tanzte wie eine solche (und darüber hinaus wie eine Assoluta).
Dieses Format hat keine der heutigen Ersten Solistinnen des Stuttgarter Balletts, so beglückt wir auch über die enormen Fortschritte sind, die Tänzerinnen wie etwa Sue Jin Kang, Julia Krämer und in jüngster Zeit so rapide Bridget Breiner gemacht haben. Man kann es Reid Anderson nur immer wieder sagen: welch einen kapitalen Fehler er begangen hat, als er Margaret Illmann auf so unschöne Weise aus der Kompanie herauskomplimentiert hat. Deren Format, pardon, wird Yseult Lendvai sich nie ertanzen. Im Gegensatz – auf der männlichen Seite – etwa zu Robert Tewsley, der sich längst aus dem Schatten seiner Stuttgarter Rollenvorgänger herausgetanzt hat und heute zur allerersten Klasse der Ballerinos von Weltreputation gehört und in diesem Sinne auch die Konkurrenz eines Malakhov nicht zu fürchten hat.
Malakhov war nie ein darstellerisch sonderlich expressiver Tänzer – und als solcher hat er in den Jahren, in denen wir seine Karriere in Stuttgart und Wien verfolgt haben, unzweifelhaft dazu gewonnen. Er hat uns immer wieder durch seine virtuose Technik und seine noble Eleganz, den Kantilenenschmelz seiner Enchainements und die enorme Schubkraft seiner Flüge begeistert. Im Rahmen seiner Möglichkeiten hat er sich die komplexe Vielschichtigkeit der Neumeierschen Rollenfigur des Armand zwischen dem unbeholfen-unerfahrenen Jungen aus der Provinz bis zu dem leidenschaftlich, ja bis zur Selbstaufgabe seiner Liebe lebenden Mann durchaus überzeugend erarbeitet.
So hat er immer wieder unmittelbar berührende Momente, zahlreiche sogar, wo er uns in den Abgrund seiner Verzweiflung reißt, uns mitnimmt auf den Gipfel seiner Amour fou, in den Taumel seiner überströmenden Gefühlswogen, doch bleibt ein schwer zu bestimmender Rest an Reserve, an Kalkül, wo wir uns risikoverachtende Spontaneität wünschen. So sehr wir uns über jeden seiner hiesigen Auftritte freuen: zur Galerie der großen Armands des Welttheaters in der Nachfolge von Clark Gable wird ihm derzeit noch der Zutritt verwehrt.
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