Nijinsky-Gala, Schlussapplaus mit Konfettiregen

Nijinsky-Gala, Schlussapplaus mit Konfettiregen

Abschluss einer Ära

Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers

Es war eine zweiwöchige Riesenwelle der Publikumsverehrung für den scheidenden Chefchoreografen. Jetzt steht der Wechsel zu Demis Volpi bevor. Spannende Zeiten.

Hamburg, 16/07/2024

Es waren zwei Wochen Neumeier satt, bevor der Hamburger Ballett-Intendant jetzt nach 51 Jahren seinen Abschied nahm. Noch einmal gab es seine großen Werke aus der Spielzeit 2023/24: „Dona nobis pacem“ zu Bachs h-Moll-Messe, „Endstation Sehnsucht“, „Die Kameliendame“, „Odyssee“, „Illusionen – wie Schwanensee“, „Romeo und Julia“, „Ghost Light“, „Die Glasmenagerie“. Noch einmal bewies das Hamburg Ballett in jeder Vorstellung seine Sonderklasse. Und Abend für Abend wurde Neumeier schon beim Betreten des Zuschauerraums mit johlendem Applaus begrüßt und natürlich am Ende jeder Vorstellung mit langanhaltenden Standing Ovations geehrt. 

Es war ein einziger Tsunami der Publikumsliebe, der diese Ballett-Tage prägte, ein Dank der Hansestadt an diesen Mann, der aus einer randständigen Sparte der Oper über 51 Jahre hinweg eine weltweit berühmte und anerkannte Kompanie machte, eine Kultur-Botschafterin der Hansestadt, wie es sie so noch nie gegeben hat. Nicht zuletzt diese Arbeit führte dazu, dass man Hamburg inzwischen getrost nicht nur als Stadt der Musik, sondern vor allem des Tanzes bezeichnen kann, was durch die Vergabe der Tanztriennale 2026 jüngst augenfällig untermauert wurde. Dass die Hamburgische Staatsoper finanziell mehr vom Ballett getragen wird als von der Oper selbst (die Auslastung bei den Ballett-Vorstellungen dürfte nahe an der 100-Prozent-Marke liegen), auch das ist das Verdienst John Neumeiers. 

Ein melancholischer Abend 

Und doch besteht jetzt, nach diesen zwei Jubelwochen, bei aller Wehmut, dass die überaus erfolgreiche Ära Neumeier zu einem Ende gekommen ist, auch ein bisschen Erleichterung und vor allem Neugier auf das Kommende. Denn gerade die Nijinsky-Gala zum Abschluss der Ballett-Tage zeigte, dass es Zeit ist für den Wechsel. War der fünfeinhalbstündige, dreiteilige Abend, der fast ausschließlich aus Neumeier-Werken bestand, doch geprägt von Melancholie und Schwermut, von fast schon depressiver Anmutung. 

So richtig Tanzfreude strahlten nur drei Stücke aus: „Yondering“ zu Musik von Stephen C. Foster, diesen eingängigen Liedern, gesungen von Thomas Hampson, kleine Preziosen für die Theaterklassen der Ballettschule und von diesen auch mit Hingabe präsentiert. 

Danach „Spring and Fall“ zur Streicherserenade E-Dur von Antonin Dvorak, höchst elegant dargeboten von Alessandro Frola und Olivia Betteridge. Und dann, als Abschluss des ersten Teils des Abends, der letzte Satz aus Beethovens 7. Sinfonie, ein schlagendes Beispiel für Neumeiers grandiose Begabung für die großen Arrangements, spritzig und gekonnt auf die Bühne gepfeffert vom ganzen Ensemble. Alle anderen Stücke jedoch atmeten Abschied und Wehmut. 

Hervorzuheben sind hier vor allem der 6. Satz aus Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ mit dem Titel „Der Abschied“. Bezeichnend die Textzeile „Still ist mein Herz und harret seiner Stunde …“, gefolgt von dem sich verhauchenden „ewig … ewig … ewig …“, das der Tenor Klaus Florian Vogt (eigens eingeflogen aus Bayreuth) mit Gefühl zu Gehör brachte. Sasha Trusch brillierte hier in der männlichen Hauptrolle und zeigte ein weiteres Mal, was einen Neumeier-Tänzer ausmacht: absolute Hingabe an die Kunst, verbunden mit einem tiefen, untrüglichen Gefühl für das Wesentliche der Choreografie. 

Brillant auch Gast Olga Smirnova an der Seite von Jacopo Bellussi in „Lento“, das Neumeier 1999 für Darcy Bussell und Otto Bubenicek anlässlich der Neueröffnung des Royal Opera House in Covent Garden schuf. Eindrücklich darüber hinaus das erst vor kurzem aus der Taufe gehobene „Unbound“ von Edvin Revazov zum 2. Satz von Beethovens „Eroica“, das einzige Nicht-Neumeier-Stück des Abends. Revazov findet hier eine ganz eigene, sehr spannende neue Bewegungssprache, getanzt vom Hamburger Kammerballett, das aus sechs ukrainischen Tänzerinnen und Tänzern besteht, für dieses Stück verstärkt durch Ida Stempelmann und Alexandre Riabko vom Hamburg Ballett. 

Die Sache mit dem Bundesjugendballett

Diese letzte Gala unter seiner Intendanz, so sagte Neumeier zu Beginn, sei ganz seiner Kompanie und dem Ballettzentrum gewidmet, diesem Mikrokosmos der Tanzwelt, wo die ganz Kleinen mit den ganz Großen unter einem Dach zusammenwirken – die Schüler*innen der Ballettschule, die Kinder und Jugendlichen im dazugehörigen Internat sowie die Profis. Auch das Hamburger Kammerballett trainiert dort und das Bundesjugendballett (BJB) war dort zuhause. 

Bis jetzt. Denn mit Beginn der Intendanz von Demis Volpi wird das BJB an das Hamburger Ernst Deutsch Theater angegliedert. Dazu heißt es in einer noch in der Nacht von Sonntag auf Montag veröffentlichten Pressemitteilung: „Die Hamburgische Staatsoper und das Ernst Deutsch Theater schließen im Juli 2024 einen Kooperationsvertrag zur Neuaufstellung des Bundesjugendballetts. Die Intendanz des Bundesjugendballetts liegt weiterhin unverändert bei John Neumeier. Der Vertrag wird zunächst für drei Spielzeiten angelegt. […] Das Bundesjugendballett wurde bei seiner Gründung als eine vom Hamburg Ballett unabhängige Einrichtung angelegt. Die neugeschlossene Kooperation ermöglicht nun eine noch stärkere Autonomie, die Freiheiten in künstlerischen und organisatorischen Bereichen umfasst.“

John Neumeier war darüber offenbar so erbost und tief gekränkt, dass er den Fauxpas beging, den von ihm eigenhändig mit ausgesuchten Nachfolger im Rahmen der Nijinsky-Gala öffentlich zu desavouieren. Dass das BJB künftig nicht mehr Bestandteil des Ballettzentrums sei, breche ihm das Herz, sagte er mit tränenerstickter Stimme vor dem Auftritt des BJB mit einem Ausschnitt aus „In the Blue Garden“. Neue Räume in der Staatsoper zu finden, sei wegen „unüberwindlicher Schwierigkeiten“ nicht möglich gewesen. Deshalb die Kooperation mit dem Ernst Deutsch Theater, das schon bisher der Aufführungsort für die alljährlichen „Im Aufschwung“-Vorstellungen des BJB war und mit dessen Leiterin, Isabella Vertes-Schütter, Neumeier seit vielen Jahren eng befreundet ist. 

Dass der neue Hamburger Ballett-Intendant nicht mit seinem Vorgänger unter einem Dach agieren möchte, erscheint nur zu verständlich. Neumeier selbst hätte Ähnliches nicht geduldet. Es zeugt nicht von Größe, hier öffentlich noch einmal nachzutreten, zumal Demis Volpi das BJB eingeladen hat, sich im Juni 2025 auf der großen Bühne der Staatsoper zu präsentieren. 

„Ich bin Christ und Tänzer“

Ein Abend im Rahmen der Ballett-Tage war einem Gespräch zwischen Neumeier und der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs in der St. Michaelis-Kirche gewidmet. Sie ist auch amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Dort, im Hamburger „Michel“, wurden 1980 die „Skizzen zur Matthäus-Passion“ erstmals gezeigt, der damalige Kirchenmusikdirektor Günther Jena hatte Neumeier den Weg dafür geebnet und war an der Kreation maßgeblich beteiligt. 

Das Gespräch über den Tanz zu sakraler Musik und die damit verbundenen Fragen begleiteten einzelne Beispiele aus Neumeiers Schaffen: die „Bach-Suite 3“ zum Air aus der Orchester-Suite Nr. 3, berückend schön gespielt von Anton Barakhovsky (was allerdings nirgendwo im Programm vermerkt war), dem Ersten Konzertmeister der Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München und dem Hamburg Ballett seit vielen Jahren verbunden. Gezeigt wurden außerdem Ausschnitte aus Bachs „Magnificat“, dem „Weihnachtsoratorium“, der h-Moll-Messe und der Matthäus-Passion sowie aus Mozarts „Requiem“ und Leonard Bernsteins „Simple Song“, der Bestandteil von Neumeiers „Bernstein Dances“ ist. 

Das Besondere am Hamburg Ballett, so Neumeier, sei „die Hingabe an die Kunst.“ Tänzer müssten nicht nur professionell sein, sondern hätten auch eine moralische Verpflichtung, die fast etwas Sakrales sei: „Das verstehen meine Tänzer. Sie setzen alle ihre Kräfte ein, diese Kunst so auszuüben.“ Das kam in den gezeigten Beispielen deutlich zum Ausdruck. 

Das Gastspiel: Let‘s fetz!

Die diesjährige Gastkompanie war das Birmingham Royal Ballet unter der Leitung von Carlos Acosta mit „Black Sabbath – The Ballet“. Ein Kontrast zu den Neumeier-Abenden, wie er größer nicht hätte sein können. Black Sabbath – das war die Kultband der 1970er Jahre bis hinein ins 21. Jahrhundert (die letzte Welttournee endete im Februar 2017 dort, wo die Band herkommt: in Birmingham). Black Sabbath hat Heavy Metal als Musiktrend begründet und viele Jahre lang geprägt. 

Die Gründungsmitglieder der Band waren auch maßgeblich an der Kreation des dreiteiligen Ballettabends beteiligt, ihre Musik diente als Vorlage für die eigens neu komponierten Partituren für Orchester und Rockband, ergänzt durch Einspielungen des Originals. Der technische Aufwand dafür war gigantisch – die Seitenbühnen standen voll mit elektronischem Equipment, das auch für den Bühnenhintergrund erforderlich war, im Zuschauerraum dominierte ein großes Steuerpult die Mitte der letzten Reihen. Hier wurden offenbar weder Kosten noch Mühen gescheut … 

Das virtuos tanzende Ensemble aus 36 Tänzer*innen gab zu drei unterschiedlichen Choreografien Einblicke in die Entstehung der Band und die Lebensbedingungen im England der damaligen Zeit, angereichert durch eingespielte Interviews mit den Bandmitgliedern und ihren Familien. Die Texte waren jedoch für alle, die nicht fließend britisches Englisch sprechen, unverständlich – schade. Choreografisch war der mittlere Teil („The Band“) noch am ehesten interessant. Ansonsten wurde redundant battiert, gesprungen, gehüpft, gedreht, gerannt, meist auf Spitze, aber stellenweise auch in Sneakers. 

Das überwiegend ältere Publikum war trotzdem hellauf begeistert und bejubelte die Gäste lautstark – so manchen dürfte das alles an die eigene Jugend erinnert haben. Vielleicht ist aber auch der Durst nach einem so fetzigen Stück einfach sehr groß, so dass man großzügig über alle Schwächen hinwegsah und die Abwechslung feierte. 

Zeit für einen Neubeginn 

Bei aller Wertschätzung für den scheidenden Ballett-Intendanten scheint die Zeit für den Wechsel jetzt doch reif zu sein. Bei der Nijinsky-Gala führte der 85-jährige John Neumeier erkennbar bewegt und mitgenommen durch den Abend – sicher nicht nur, aber auch aufgrund der besonderen Situation, zum letzten Mal in dieser Funktion auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper zu stehen. 

Langweilig wird ihm allerdings nicht werden. Er habe genug zu tun, heißt es, er sei für die nächsten Jahre so gut wie ausgebucht. Neben Engagements in Baden-Baden und anderswo steht in Hamburg die Etablierung seines Instituts an, für das ihm die Stadt eine Jugendstil-Villa im Mittelweg zur Verfügung gestellt hat (siehe tanznetz vom 4. Mai 2022). Seit zwei Jahren hört man jedoch nichts mehr von diesem Projekt. Im Rahmen der Gala ließ Neumeier wie nebenbei fallen, er hoffe, dass die Sammlung auch in Hamburg bleiben werde. Eine alarmierende Bemerkung, die aufhorchen ließ. Auf Nachfrage von tanznetz sagte der Sprecher der Kulturbehörde, die Stadt stehe zu den Abmachungen, derzeit gehe es um Verhandlungen für die Rechte an Neumeiers Werken. Es sei nicht unüblich, dass die Gespräche darüber so lange dauern. 

Aber auch wenn das Einrichten dieses Institut als Heimat von Neumeiers umfangreicher, weltweit einmaliger Sammlung sicher eine große Aufgabe für die Zukunft ist, so hat er dann eben nicht mehr seine eigene Kompanie, die ihm so am Herzen lag, diese famosen Tänzer*innen, die den ganz eigenen Stil des Hamburg Balletts prägen. Und er ist nicht mehr der Hausherr im Ballettzentrum, das seit 1989 seine Heimat war, sein Anker, seine Zuflucht, der Mittelpunkt seines Lebens. 

Es wird ein großer Einschnitt sein im Leben dieses Jahrhundert-Choreografen (siehe tanznetz vom 29. August 2023), der so viel für den modernen Tanz bewirkt hat, der sein ganzes Leben in den Dienst seiner Kunst stellte, in der der Mensch mit all seinen Tiefen und Untiefen, mit seinen Gefühlen, Zweifeln und Höhenflügen, mit seiner Fähigkeit zu Hingabe, Vertrauen und Liebe immer im Mittelpunkt stand. 

Es ist noch kaum zu ermessen, wie bedeutsam die Ära Neumeier für den Tanz im 20. und 21. Jahrhundert sein wird. Dass sie jetzt, am 14. Juli 2024, ihren Abschluss fand und finden musste, ist jedoch richtig. Das Hamburg Ballett kann auf der Basis eines soliden und gut gebauten Fundaments zuversichtlich in die Zukunft schauen. Wir sehen spannenden Zeiten entgegen. 

 

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