Dem Anlass nicht angemessen

Eher Masse statt Klasse: Das Fotobuch „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“

Der Fotoband anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Hamburger Ballettintendanten ist leider kein wirklicher Spiegel seines Schaffens, sondern ein aneinander gestückeltes Sammelsurium von Bildern.

Hamburg, 10/11/2022

Sagenhafte 50 Jahre steht John Neumeier jetzt dem Hamburg Ballett vor – zuerst als Ballettdirektor und Chefchoreograf, seit 1996 als Ballettintendant und damit dem Intendanten der Oper und dem Generalmusikdirektor gleichgestellt. Früher war das Ballett ja der Opernintendanz untergeordnet. Neumeier setzte die Eigenständigkeit der Ballettsparte in Hamburg durch und trug damit maßgeblich zu ihrer Aufwertung bei. Grund genug eigentlich, um in Buchform einen veritablen Rückblick zu wagen auf eben diese 50 Jahre. Auf die Entwicklung John Neumeiers als Künstler und als Mensch. Auf über 170 Choreografien – von denen die meisten in Hamburg entstanden sind, nicht wenige davon sind zeitlose Meisterwerke. Auf Tänzer*innen, Bühnenbildner*innen und Musiker*innen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass das Hamburg Ballett heute ist, was es ist: eine Kompanie von Weltrang.

Mag sein, dass es schier unmöglich scheint, aus dieser Fülle ein Buch zu bündeln, das nicht über 1000 Seiten umfasst. Und doch wäre es der Mühe wert gewesen – gab es mit den diversen Jahrbüchern zu den vergangenen runden Geburtstagen des Hamburg Ballett ja qualitativ hochwertige Vorlagen, zuletzt den 2013 erschienenen und 468 Seiten umfassenden, außerordentlich sorgfältig durchdachten und gestalteten Band über „40 Jahre John Neumeier“. Er bietet nicht nur einen Überblick über 40 Jahre kreatives Schaffen, sondern spiegelt auch in Wort und Bild die großartigen Künstlerinnen und Künstler, die in dieser Zeit das Hamburg Ballett geprägt haben.

Etwas Vergleichbares bietet der 50-Jahre-Fotoband in keiner Weise. Er versammelt in Zehn-Jahres-Schritten jeweils historische Aufnahmen verschiedener Fotografen – meist in schwarz-weiß, komplettiert durch zeitgenössische Fotos (von Kiran West) anlässlich von Wiederaufnahmen aus neuerer Zeit (in Farbe). Eine inhaltlich weiterführende Idee hinter diesen zusätzlichen Bildmotiven ist dabei nicht erkennbar. Sie zeigen lediglich, dass die seinerzeit entstandenen Werke auch heute noch gezeigt werden. Ja nun…

Rätselhaft bleibt auch die Auswahl und inhaltliche Aussage für die den Dekaden zugeordneten Überschriften: „Die Errichtung einer Compagnie“ (1973-83), „Ein neues Zuhause“ (1983-93), „Wegweisende Kreationen“ (1993-2003), „Kreative Entfaltung“ (2003-2013), „Grenzenlose Hingabe“ (2013-23). Wegweisende Kreationen Neumeiers hat es schon sehr viel früher gegeben, gerade in den ersten 20 Jahren in Hamburg. Man denke nur an den schon in Frankfurt entstandenen „Nussknacker“, der in Hamburg noch einmal einen Feinschliff erhielt. Man denke an die „Kameliendame“, an „Dornröschen“, an „Illusionen – wie Schwanensee“, an „Endstation Sehnsucht“ und viele, viele andere mehr. Eine kreative Entfaltung und eine grenzenlose Hingabe an den Tanz zeichnen Neumeiers Schaffen ebenfalls schon von Beginn an aus.

Jedem Abschnitt sind kurze Statements Neumeiers und jeweils einer zusätzlichen Persönlichkeit, die mit dieser Dekade (und meist noch weitaus länger) etwas zu tun hatte, vorangestellt: Marianne Kruuse, von 1973 bis 1985 Erste Solistin und von 1985 bis 2013 Pädagogische Leiterin der Ballettschule des Hamburg Ballett; Christoph Albrecht, ehemaliger Dramaturg und Chefdisponent an der Hamburgischen Staatsoper (1972-1977) und von 1981 bis 1991 Ballettbetriebsdirektor; Gigi Hyatt, von 1986 bis 1997 Erste Solistin und seit 2013 Pädagogische Leiterin der Ballettschule des Hamburg Ballett; Vladimir Urin, Intendant des Moskauer Bolschoi-Theaters; Brigitte Lefèvre, ehemalige Étoile und von 1995 bis 2014 Direktorin des Balletts der Pariser Oper; Kent Nagano, Dirigent und seit 2015 Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters. Nur wenig jedoch erfährt man – abgesehen von den Statements von Marianne Kruuse und Gigi Hyatt – über die besonderen Beziehungen dieser Persönlichkeiten zum Hamburg Ballett. Das bleibt alles ziemlich an der Oberfläche.

Etwas seltsam mutet auch das Statement des Bundeskanzlers gleich zu Beginn des Buches an, ist Olaf Scholz doch nicht dafür bekannt, häufig in Vorstellungen des Hamburg Ballett gesehen worden zu sein – weder in seiner Zeit als Hamburger Erster Bürgermeister (März 2011 bis März 2018) noch danach.

Ein weiterer Anlass zum Kopfschütteln ist das Coverfoto: John Neumeier in einem seiner großen Trainingssäle im Hamburger Ballett-Centrum, in Jeans, T-Shirt und Jacke, die Arme weit ausgebreitet, einen Fuß zum „Tendu“ vorgestreckt, den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken gelegt. Im Hintergrund, als zweites, sehr viel kleineres Motiv darübergelegt, eine nur schemenhaft erkennbare Silhouette. Man kann nur vermuten, wer das ist –John Neumeier, nur 50 Jahre früher?? Sollen sich hier der junge und der heute 83-jährige John tanzend im Ballettsaal begegnen? Ach je…

„Bilder einer Ära“ heißt der Untertitel des Buches, das Dr. Jörn Rieckhoff (Direktor der Kommunikation und Dramaturgie, Projekt- und Redaktionsleitung für das Buch) und Kiran West (Fotos, grafische Gestaltung und Satz) verantworten. Mehr ist es auch nicht. John Neumeier muss das gespürt und erkannt haben. Denn in seinem Statement zu Beginn des Buches schreibt er fast schon entschuldigend: „Das vorliegende Buch bietet vor allem bildliche Darstellungen. (...) Eine gute Fotografie aber, die ein zeitlich eingefrorenes Bild einfängt, suggeriert auch Assoziationen, Nebenbedeutungen, Situationen und vor allem Bewegung – Reflexionen jenes Moments im Auge der Emotion. Lassen wir die Stille der ausgewählten Bilder für sich sprechen. Die Texte sind daher auf ein Minimum reduziert, denn es wäre nicht wünschenswert, die Bilder zu interpretieren, die für sich die Entwicklung dieser wunderbar kreativen Jahre in Hamburg ausdrücken.“ Ach, wenn es doch nur so wäre.

Man kann nur froh sein, dass es über das umfangreiche Schaffen Neumeiers bereits eine ganze Reihe von Büchern gibt, die seine besondere Bedeutung für das Ballett im 20. und 21. Jahrhundert auf sehr viel anschaulichere und tiefgründigere Weise belegen.

 

„50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“, Henschel Verlag, 256 Seiten, 49 Euro

„50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“

„50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“

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