Abwarten und Teetrinken

Die Lage beim Royal Ballet nach Ross Strettons Rücktritt

Stuttgart, 11/10/2002

Am vorzeitigen Ausscheiden von Ballettdirektor Ross Stretton beim Londoner Royal Ballet war auch Kenneth MacMillans Witwe Deborah beteiligt. Angeblich hat sie dem Royal Ballet ein Ultimatum gestellt, wonach sie die Rechte an sämtlichen MacMillan-Balletten zurückziehen wollte, wenn Stretton nicht geht. Deborah MacMillan war unzufrieden mit der Programmgestaltung des Royal Ballet zum zehnten Todestag ihres Mannes. Inzwischen werden auch schwere Vorwürfe an die Besetzungskommission des Royal Opera House erhoben, dass sie vor zwei Jahren den Außenseiter Ross Stretton überhaupt zum Nachfolger von Anthony Dowell gewählt hat. David Drew, ein 64-jähriger und kurz vor der Pensionierung stehender Charakter-Solist beim Royal Ballet, äußerte sich entgegen einer Kompanie-internen Absprache der Tänzer in der „Mail on Sunday“ und ließ seinem Ärger freien Lauf. Er bezeichnete Strettons Direktion als „einen einzigen Ego-Trip“, warf dem Australier eklatante Entscheidungsschwäche und die Unfähigkeit vor, sich in die Verwaltungsstruktur eines Opernhauses zu integrieren. Stretton habe durch seine kurzfristigen Besetzungsänderungen die Tänzer gegeneinander aufgehetzt und Unfrieden gestiftet. Seine Absetzung sei letztlich dem gemeinsamen Agieren aller Tänzer zu verdanken, die bereits nach einem halben Jahr gemerkt hätten, dass sie nicht mit ihm arbeiten könnten. Auch seriöse Zeitungen wie die Times griffen Vorwürfe auf, wonach Strettons Besetzungsentscheidungen durch seine Affären mit diversen Ballerinen beeinflusst worden seien. Der vorzeitige Abgang des Australiers entpuppt sich also letztendlich als Rauswurf.

Andere Kommentare fragen sich, ob Stretton nicht einfach mit den Problemen jedes neuen Direktors gekämpft habe, wie zum Beispiel mit den älteren und schlechten Tänzern, die ihm sein Vorgänger hinterlassen hat. Manche Kritiker fürchten nach Strettons vorsichtiger Öffnung für moderne Choreografen jetzt einen Rückfall in eine verstaubte Klassiker-Tradition, wie sie unter Anthony Dowell geherrscht hatte. Andererseits kann Stretton kaum der Vorwurf zu großer Modernität gemacht werden, denn es standen weiterhin jede Menge traditionelle Handlungsballette auf dem Programm - vielmehr geht es um die Qualität der neuen Klassikerinszenierungen wie der eingekauften modernen Werke, die den meisten Fällen bei Publikum und Presse nicht sehr gut ankamen.

Die Interims-Direktorin Monica Mason hat am 9. Oktober einschneidende Programmänderungen für die laufende Saison bekannt gegeben. So wird Angelin Preljocajs „Le Parc“ gestrichen, was natürlich mit einer finanziellen Belastung wegen des Vertragsbruchs verbunden ist. Das Handlungsballett wird durch einen dreiteiligen Abend ersetzt, der Rudolf Nurejew zu seinem zehnten Todestag im Jahr 2003 gewidmet ist: Balanchines „Apollo“, der dritte Akt von Nurejews „Raymonda“ und verschiedene kurze Divertissements (darunter auch der Pas de deux aus Forsythes „In the middle, somewhat elevated“). MacMillans „Pagodenprinz“ wird durch einen dreiteiligen Abend aus „Danses Concertantes“, „The Judas Tree“ und „Gloria“ ersetzt, der so MacMillans Oeuvre vom Beginn seiner Karriere bis zu seinem letzten Werk für das RB erfasst. Zusätzlich gibt es zehn Aufführungen von MacMillans „Romeo und Julia“. Angeblich soll Irek Mukhamedov für „The Judas Tree“ zum Royal Ballet zurückkehren.

Die Frage des Nachfolgers wird in den englischen Medien so ratlos wie breit diskutiert. Ross MacGibbon, Fernsehproduzent bei der BBC für Ballett- und Tanzsendungen und bei der letzten Direktoren-Kür auf dem zweiten Platz hinter Stretton gelandet, lehnte erstmal dankend ab und bezeichnete das Royal Opera House bei der Gelegenheit als „ein Nest voll Schlangen, das noch immer dringend Reformen braucht“. Der Guardian favorisierte in der vergangenen Woche Kevin McKenzie, den Direktor des ABT. Er hatte damals im März 2000 noch abgelehnt, Anthony Dowells Nachfolger zu werden. Ein anderer Vorschlag geht dahin, die jetzige Direktorin Monica Mason noch die vier Jahre bis zu ihrer Pensionierung zu behalten. Als „hausinterne Lösung“ werden die beiden ehemaligen RB-Solisten Bruce Sansom und Deborah Bull gehandelt. Sansom wechselte im August in die Verwaltung des Ballet Rambert und hat zuvor eine zweijährige Ausbildung zum künstlerischen Manager und Artistic Director in San Francisco und New York absolviert. Bull ist seit einem Jahr für die beiden kleinen Studio-Theater und Experimentierbühnen des Royal Opera House zuständig, wo sich in dieser Zeit aber auch nicht unbedingt Weltbewegendes tat. Im Gespräch ist auch David Nixon, der Direktor des Northern Ballet, außerdem wurden in der Presse die Namen von Mikhail Baryshnikov, ehemals ABT-Direktor und derzeit auf Abschiedstournee mit seinem White Oak Dance Project, sowie die Tänzer Sylvie Guillem und Irek Mukhamedov genannt, die aber wohl eher als Außenseiter gelten dürften.

Vom Stuttgarter Ballettdirektor Reid Anderson, vor zwei Jahren noch ein Bewerber auf der Liste, wird im Augenblick nicht mehr gesprochen - möglich, dass er sich durch die Auswahl der „Onegin“-Besetzungen im letzten Jahr in London unbeliebt gemacht hat, wo mit Sylvie Guillem, Leanne Benjamin und Jonathan Cope drei Stars des Royal Ballet nicht in Crankos Puschkin-Ballett tanzen durften. Mit einer raschen Entscheidung, so sind sich die englischen Zeitungen einig und so wurde es sogar vom Pressesprecher des Royal Opera House bestätigt, dürfte kaum zu rechnen sein.

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