Abwarten und Teetrinken
Die Lage beim Royal Ballet nach Ross Strettons Rücktritt
Als der Australier Ross Stretton vor einem Jahr als künstlerischer Leiter zum Londoner Royal Ballet kam, trat er mit einem Drei-Jahres-Programm an, das einerseits Respekt vor der englischen Tradition und andererseits frischen Wind für das konservative Repertoire versprach. Weder das eine noch das andere sei ihm gelungen, warfen ihm die englischen Zeitungen im März bei der Vorstellung der Spielzeit 2002/2003 vor; bereits nach seinem ersten Jahr sprachen Kritiker von einem „empörenden Niedergang“ und vom „falschen Mann am falschen Platz“. Zwar habe das Royal Ballet zur Wiedereröffnung des renovierten Opernhauses in Covent Garden eine kräftige Budget-Erhöhung erhalten, aber die Kreativität sinke immer weiter - für die nächste Saison stehen bei ca. 150 Aufführungen lediglich zehn verschiedene Abende mit insgesamt 15 verschiedenen Werken auf dem Programm, darunter nur eine einzige Uraufführung (von David Bintley, dem Leiter des Birmingham Royal Ballet). Stretton setze viel zu stark auf die „sicheren“ Klassiker und Handlungsballette, gebe dem choreografischen Nachwuchs keine Chance. Zu einem neuen „Dornröschen“ von Natalia Makarova kommen in der nächsten Saison lediglich Übernahmen älterer Werke von Angelin Preljocaj („Le Parc“), Mark Morris („Gong“) oder Jiri Kylian („Sinfonietta“).
Während manche Kritikerstimmen den Einkauf von Werken dieser internationalen Choreografen loben (in der letzten Spielzeit waren es Mats Ek und Nacho Duato), weil Stretton im Gegensatz zu seinem Vorgänger über die eigenen britischen Grenzen hinausschaue, beklagt der Großteil der Kritiker und des Publikums den Verlust der spezifisch englischen Werte - das Royal Ballet tanze jetzt die gleichen Stücke wie jede x-beliebige internationale Truppe. Stretton verteidigt den Erwerb solcher Werke als einen ersten Schritt, um Zuschauer und Tänzer mit den verschiedenen modernen Stilen bekannt zu machen, um dann später diese Choreografen für neue, eigens für das Royal Ballet kreierte Werke zu verpflichten zu können.
Vorwürfe über die ungenügende Pflege der eigenen Tradition werden zum Beispiel an der Tatsache festgemacht, dass in der nächsten Spielzeit lediglich ein kurzes Ashton-Ballett gezeigt werde - so wie man in Dänemark Bournonville oder beim New York City Ballet Balanchine pflege, müsse das Royal Ballet ständig Ashton im Repertoire haben. Und obwohl im nächsten Jahr die Feiern zum 10. Todestag von Kenneth MacMillan anstehen, finden sich nur seine bekannten Abendfüller wie „Manon“ und „Mayerling“ auf dem Programm, keine selteneren Stücke. Für Wirbel sorgte dabei eine Äußerung Strettons, dass „MacMillans einaktige Ballette eher für die erzieherische Arbeit und periphere Theatervorstellungen als für die große Bühne geeignet sind“. Angesichts eines Meisterwerkes wie MacMillans „Lied von der Erde“ kann man sich den Aufschrei in den englischen Medien vorstellen.
Ein weiterer Kritikpunkt: wichtige Tänzer haben die Kompanie verlassen, sind gegangen worden oder fühlen sich benachteiligt. Sarah Wildor, als Ashton-Interpretin und eindrückliche Darstellerin in Handlungsballetten geschätzt, hat sich im September vom Royal Ballet zurückgezogen. Es wird vermutet, dass sie neben den neuen Stars Alina Cojocaru und Tamara Rojo, die in praktisch jedem Ballett besetzt werden, einfach nichts mehr zu tun bekam; ein ähnliches Los trifft derzeit Miyako Yoshida. Irek Mukhamedov, lange Jahre ein Star der Truppe, ist sang- und klanglos verschwunden, das kubanische Sprungwunder Carlos Acosta beklagt sich öffentlich darüber, dass ihm die Partnerin genommen werde und er in die Matinee verbannt wurde.
Und jetzt revoltieren die Tänzer sogar offen gegen ihren Chef: Nach englischen Zeitungsberichten vom letzten Wochenende stehen die Tänzer des Royal Ballet, die in der Gewerkschaft Equity organisiert sind, kurz vor einer offiziellen Beschwerde über Ross Stretton. In einem Gespräch mit Tony Hall, dem geschäftsführenden Direktor von Covent Garden, sollen die Vorwürfe geklärt werden - es geht wohl vor allem um die viel zu späte Festlegung von Besetzungen, die dann in letzter Minute doch wieder geändert werden. Lediglich eins zu zehn lautete bei den letzten Aufführungen die Chance, die beim Vorverkauf angekündigte Besetzung am betreffenden Abend auch auf der Bühne zu erleben, so hat der Independent jetzt ausgerechnet. Der Evening Standard zitierte am letzten Freitag eine ungenannte Quelle aus dem Ballett: „Es war eine verheerende Ernennung. Viele der Tänzer glauben, dass er nicht einmal einen Eierlauf leiten könnte, schon gar nicht das Royal Ballet. Sie sind führungslos, unter einem farblosen, glanzlosen und völlig inspirationslosen Mann.“
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