Wundervolle zwei Stunden

Das NDT III mit „Merryland“ von Meryl Tankard

Ludwigsburg, 17/06/2002

Die Tanzreihe der Ludwigsburger Schlossfestspiele liefert ein „Muss man gesehen haben“ nach dem anderen. Während das jeweils gewissermaßen vollzählig erschienene Publikum im Forum Sasha Waltzens „Körper“ erstaunt bewunderte und dem ihm folgenden Frankfurter Ballett mit vier Arbeiten seines Chefs William Forsythe am Ende tumulthaft zujubelte, gab es jetzt in der drückend heißen Reithalle der Karlskaserne etwas, um so manches Lach- und Rührungstränchen zu zerdrücken. Das NDT III, die Seniorentruppe des holländischen Nederlands Dans Theaters, spielte, tanzte und sprach „Merryland“ von der berühmten australischen Choreografin Meryl Tankard, deren ungewöhnliche Arbeiten sie schon bei früheren Gastspielen noch mit ihrer eigenen Formation schnell zum Liebling der Tanzfreunde hatten werden lassen.

Wenn das NDT III bei Festivals auftritt, dann tanzt es alle anderen Truppen mühelos an die Wand und aus der Erinnerung. Jedes seiner Mitglieder Gioconda Barbuto, Sabine Kupferberg, David Krügel und Egon Madsen ist längst jenseits der Vierzig – Madsen, Stuttgarts noch immer heiß geliebter, einstiger blonder Prinz, feiert in zwei Monaten gar seinen 60. Geburtstag. Sie, seit elf Jahren in zum Teil wechselnder Zusammensetzung, strafen in beglückender Manier jenen Grundsatz Lügen, nach dem Tänzer, wenn sie den Gipfel ihrer künstlerischen Leistungsfähigkeit erreicht haben, körperlich nicht mehr in der Lage dazu sind, ihr auch Ausdruck zu geben.

„Merryland“ ist ein sehr persönliches Stück. Es zeigt Kindheit, Jugend und Karrieren seiner handelnden Personen, die sich in ihren Erinnerungen so glücklich räkeln, wie Kinder im Matsch. Sehr ernsthaft und in jugendlicher Diktion beschreiben sie jene Bilder, die am Schluss des Abends, sozusagen im Nachspann, zum Beweis auf eine Leinwand projiziert werden. „Das ist ein Foto von mir, wie ich...“ – und dann gruppieren sie sich wie für die Aufnahme, popeln in der Nase, schneiden Grimassen und versuchen, freundliche Gesichter zu machen. Barbuto erzählt von ihrer elterlichen Wohnung, die so klein war, dass sie den Weihnachtsbaum in der Küche aufstellen mussten, Kupferberg erlebt ihren ersten Auftritt im Kinderballett als Rotkäppchen nach, Krügel tanzt noch einmal die südafrikanische Folklore, mit der er seine Laufbahn begonnen hatte und Madsen quält sich noch einmal durch die Torturen seiner, erfolglosen, Aufnahmeprüfung ins Konservatorium.

Sie tanzen ausgelassen vor sich hin, zu Musette und arabischer Musik, die Ali Jihad Racy geschaffen hat, hinter ihnen erscheinen die schönsten Landschaftsbilder von Regis Lansac, und sie zitieren die begeisterten Lobeshymnen, die ihnen Kritiker auf allen Kontinenten geschrieben haben (nur die New York Times fand, das NDT III sei „Rubbish“) – es ist die pure Freude. Dieses ist allerdings vor allem der Abend von Egon Madsen, der viel aus seiner Stuttgarter Zeit erzählt und angedeutet tanzt, wie anstrengend es gewesen sei, seinem Ruf, er sei so wahnsinnig schnell, gerecht zu werden, wie er seine berühmten Entrechats six sprang, wie ihm seine Frau Lucia Isenring bei einer Pirouette mit ihrem Ellenbogen ein blaues Auge verpasste und wie er auf der Bühne so oft und so schön sein Leben aushauchte: „Beim Sterben war ich immer am besten.“ Ach, das waren überhaupt wundervolle zwei Stunden mit anbetungswürdigen Künstlern.“

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