Pierre Wyss: „Lulu-Szenen“

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Karlsruhe, 27/04/2002

Mit Volldampf brettert die Neuauflage von Pierre Wyss‘ „Lulu-Szenen“ über die von Johannes Conen terrassenartig-amphitheatralisch geschichtete Bühne des Karlsruher Kleinen Hauses. Das jagt in neun Stationen und neunzig pausenlosen Minuten vorbei: Erotische Männerfantasien, projiziert auf den Mythos Frau, die in diesem Tanzstück Lulu heißt – angeheizt von den sperrig-ungebärdigen Klängen Iannis Xenakis.

So gewaltig explodiert die erotische Urkraft dieser Frau, dass Wyss, der das Stück zuerst vor Jahren in Braunschweig herausgebracht hat, für ihre Darstellung nicht weniger als vier verschiedene Tänzerinnen benötigt – aufgespalten aus der einen Lulu des Prologs, die auch am Schluss als Opfer und Wegwerfprodukt dieser Männergesellschaft tot auf der Bühne liegt. Sie ist Lisi Grether – eine Tanzaktrice von so bezwingender Persönlichkeit, dass ihre Abspaltungen (Alicia Alcazar, Hisako Ogiso und Eri Iwasaki) nicht entfernt an ihr Format heranreichen. Wie auch all die Männer, die sie umgeben, eher chargierende Knaben sind, halbausgegorene Jünglinge, die sich weidliche Mühe geben, die ihnen von Wyss zugemessenen Rollen mit theatralischem Leben zu füllen, und die doch nicht über deren Klischee hinaus gelangen.

Mit einer Ausnahme: dem Dr. Schön von Gabriel Sala. Da steht und tanzt ein Mann, viril und kernig, dessen reiche Lebenserfahrung ihn gleichwohl nicht davor schützt, ein hilfloses Opfer seiner Hörigkeit zu werden. Ich hätte mir gewünscht, Wyss hätte seine allzu penible Nacherzählung der Lulu-Story mit ihren vielen Episoden auf diesen Kampf zweier gleich starker Charaktere konzentriert und damit der Tragödie Wedekinds eine neue Sichtweise abgewonnen. Die Tänzerdarsteller hätte er dafür gehabt, denn sowohl Grether wie auch Sala gehören heute zu den markantesten Persönlichkeiten unserer Ballettszene. Die anderen bleiben halt – man muss es schon so sagen: bloße Tänzerlein, rechte Zappelphilippe des Kamasutra, eifrig darum bemüht, Wedekind nachzubuchstabieren und doch nur Abziehbilder aus dem theatralischen Versandhauskatalog.

Dabei muss man den Karlsruher Tänzern lassen: Wyss hat ihnen ganz schön eingeheizt und Dampf gemacht, und sie stürzen sich mit Wonne in ihre Rollen, aber es wirkt eben alles aufgesetzt und forciert, voll falscher Theatralik. Und der Jack the Ripper, der ihr am Schluss die Kehle durchschneidet, ist zwar ein ungewöhnlich attraktiver Tänzer, aber ganz gewiss nicht der Benito Marcelino, der auf dem Besetzungszettel stand.

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