Modernes Ballett, aber auf klassischer Basis: Der gesamte neue Abend des Stuttgarter Balletts wird auf Spitze getanzt. Mit zwei Uraufführungen und einer Wiederaufnahme sucht Reid Andersons Truppe in „UK/US Moves“ neue Wege des modernen Tanzes - zweimal eher extrovertiert und rasant, einmal stark nach innen gewandt.
Mit „Aubade“ hat der junge Brite Douglas Lee wieder eines seiner düsteren, müden Stücke choreografiert, inspiriert in diesem Fall vom gleichnamigen Gedicht des englischen Poeten Philip Larkin, in dem es um die Unvermeidlichkeit des Todes geht. Das Schrittvokabular des ersten Solisten ist ideenreich, keine Frage, und er hört genau auf Per Nörgards Streichermusik. Aber zu stark ähnelt „Aubade“ (was statt mit „Morgenständchen“ hier eher mit „Nachtlied“ zu übersetzen wäre) seinem letzten Ballett „Cindys Gift“, viel zu spröde erscheinen seine Ballette auf Dauer. Jorge Nozal ist der nackte, bloße Mensch, der einer anonymen Masse gegenübertritt. Obwohl das Stück eine Art Handlung hat - der zentrale Charakter findet eine Partnerin und verliert sie wieder an die Gruppe -, wirkt „Aubade“ als Zustandsbeschreibung einer trostlosen Welt doch statisch und fatalistisch: Sogar in den verschlungenen Pas de deux heben die Menschen niemals den Blick zueinander. Es gibt keinen Moment der Verzweiflung oder der Erlösung, nur dunkles Grübeln - Douglas Lees introvertierte Ballette sind anstrengend, aber dennoch beeindruckt seine Ehrlichkeit, der Verzicht auf Äußerlichkeit und Effekt. Und wie ein leiser Widerhaken bleibt die Frage übrig, ob „Aubade“ wirklich nur ein depressives Ballett war oder nicht vielleicht ein flüchtiger Blick in die tiefe Traurigkeit der Dichter und Philosophen.
Davor und danach: das absolute Gegenprogramm. Rasanter, cooler Hochgeschwindigkeitstanz, in den sich Reid Andersons junge Tänzer mit einer wahren Lust an neuen Choreografien und anderen Bewegungsstilen hineinwerfen - einige erfolgreicher als andere. Weil der ursprünglich vorgesehene Brite Russell Maliphant keine Zeit hatte (und so zur Änderung des ursprünglichen Programmtitels „UK Moves“ zwang), stand am Anfang des Abends Kevin O'Days „dreamdeepdown“, das im Juni 2001 zu elektronischer Musik von John King entstanden war. In warmen Brauntönen greift O'Day die irrealen Gedankenblitze eines Traums auf - er spielt mit dem Tempo, verlangsamt plötzlich alle Bewegung zur Zeitlupe, kippt von der Seite kurze Handlungsfetzen herein und startet Anfänge, die gleich wieder aufhören. Noch fehlt den beiden Solisten Ivan Gil Ortega und Douglas Lee die entspannte Lässigkeit, mit der ihre Vorgänger Robert Tewsley und Tamas Detrich die sinnlich-kühle Sue Jin Kang umwarben, noch hat ihr Machismo etwas Aufgesetztes.
Aber ansonsten sieht das Stuttgarter Ensemble in solchen schnellen, zackigen Balletten einfach konkurrenzlos gut aus. Den Amerikaner O'Day, der jetzt in Mannheim Ballettdirektor ist und auch schon für Berlin im Gespräch war, hat Anderson damals für Deutschland entdeckt, und auch das Engagement des Briten Wayne McGregor kann er jetzt als seinen Erfolg feiern - er muss ihn kurz nach dessen ersten Kontakten mit der etablierten Welt des klassischen Balletts in London entdeckt haben. Für „Nautilus“ arbeitete der 33-jährige „Cyber-Choreograf“ mit der großen Zahl von 24 Tänzern, die sich in futuristischer, türkisfarbener Strandmode von Ursula Bombshell zwischen tiefblauen Neon-Säulen bewegen. Zu nervösen Streicherläufen von Michael Gordon (die wie Per Nörgard live musiziert wird) donnert und regnet es elektronisch.
McGregor ähnelt O'Day darin, dass er im Grunde nichts Neues erfindet, sondern das Bewegungsrepertoire und die klare, geometrische Ästhetik des neoklassischen Balletts einfach ausbeutet und neu aufmischt. Beide öffnen diese Tanzsprache für andere Bewegungsarten oder inszenieren kleine Fluchten aus ihr - Arme, die plötzlich wie losgelöst vom Rumpf mäandern, oder Hände, die Pacman-artig auf das Gesicht ihres Besitzers losgehen, Hüften, die sich wie bei einem Roboter gegen den Körper verschieben. Aber während Kevin O'Day mit diesen „tanzfremden“ Elementen wie Karate-Schlägen oder Entenwatscheln spielt, sie eigentlich nur als ironische Zitate und Anspielungen einsetzt, ist McGregors Maschinen-Impetus ein integraler Bestandteil seiner Tanzsprache. Auch wenn wir fast sämtliche Bewegungen in „Nautilus“ schon einmal gesehen haben: in dieser Schwindel erregenden Kombination, unter dieser Dauerhochspannung haben wir sie garantiert noch nie gesehen. Hier gibt es keine Verlangsamung, McGregor hält den atemlosen Drive über die gesamte Dauer durch und steigert ihn noch mit den aufgeregten Zuckungen der Minimal Music. Da wirken Alexander Zaitsev und Eric Gauthier wie ferngesteuerte Androiden, da kauert Diana Martinez Morales wie ein menschliches Spinnenweibchen auf dem Boden, da rückt das klassisch-geometrisch aufgereihte Corps de Ballet plötzlich wie eine bedrohliche Armee geklonter Krieger aufs Publikum vor.
Mit dem Schwerpunkt auf der reinen, schnellen Bewegung liefert dieser Abend sozusagen das Gegenprogramm zum nur-expressiven Tanztheater - und eine mögliche Alternative, wohin der Weg des modernen Balletts in Zukunft führen kann. Nach dem Jubel bei der Premiere zu schließen ist es genau der richtige Weg.
Kommentare
Noch keine Beiträge
Please login to post comments