„Le sacre du printemps“

„L´enfant et les sortilèges“

Bielefeld, 10/05/2003

Schon lange kein Skandal mehr wie zur Uraufführung ist Strawinskys „Le sacre du printemps“, aber immer noch ein Prüfstein für Choreographen und Dirigenten/Orchester. Am Bielefelder Theater triumphieren die Musiker, von Dirk Kaftan souverän angeleitet zu einer analytisch ausgeleuchteten Interpretation mit scharf herausgearbeiteten Rhythmen und klarer Artikulation in den lyrischen Abschnitten. Dazu unternimmt Ballettchef Philip Lansdale den Versuch, mit fünf Frauen und fünf Männern ein tänzerisches Drama um Eros und Opfer zu entwickeln. Das misslingt schon deshalb, weil das Ensemble auf zu kleiner Spielfläche agieren muss, denn den Hauptteil der Bühne nimmt das Orchester ein, vor dem sich der Dirigent herausragend platziert erhebt. Den Akteuren bleibt vorn nur noch eine Art Miniarena, durch eine halbkreisförmige Wand abgegrenzt von den Musikern.

Zu Beginn umwabert Nebel fünf Frauen in Kleidchen mit engem Oberteil und kniekurzen Röcken, sie winden sich zum Fagottsolo. Zum Einsatz des Streicherblocks - Vorboten des Frühlings - treten die fünf Männer auf, nackte Oberkörper, dunkle, lange Hosen, schieben sich in der 2. Position vorwärts, werfen zu den unregelmäßigen Akzenten die Beine in battements hoch, absolvieren angehockte Sprünge. Lansdale deutet einen rituellen Kreises an, konzentriert sich aber vornehmlich auf Paarformationen. Einige markante Bewegungen stechen hervor: Handstände mit nach oben herausgestoßenen Beinen oder der Sprung vorwärts der Frauen, die sich dann rückwärts auf die Arme ihrer Partner werfen. Viel mehr wird es nicht, die Entwicklungslinie bleibt flach. Warum schlussendlich, nach gemäßigt orgiastischen Ausbrüchen der Paare und bemüht brutalen Benehmen der Mannsbilder, ein Opfer ausgewählt wird, obwohl sich Lansdale nicht nach der Originalvorlage richtet, bleibt im Dunkeln.

Landsdale versäumt es, einen eigenständigen choreographischen Entwurf zu präsentieren. Die Anleihen bei allen möglichen Vorbildern - etwa beim Opfertanz fast „wörtliche“ Zitate aus Pina Bauschs Version des modernen Klassikers - würden nicht stören, wären sie in eine originäre Lansdale-Bewegungssprache eingeschmolzen. Die gibt es an diesem Abend jedoch nicht. Das engagierte Ensemble, besonders die Männergruppe, hat Probleme mit der Musik, mit den synchron gemeinten Abläufen. Yuko Harada verkörpert überzeugend die Verzweiflung, das Ausgeliefertsein des weiblichen Opfers: tänzerisch ein Höhepunkt.

Die Kostüme bestimmten den zweiten Teil des Abends: Ravels exquisite, 1925 uraufgeführte Oper „L´enfant et les sortilèges“. Ein ungezogenes Kind wird von Möbeln, Einrichtungsgegenständen und Tieren für seine Grausamkeit bestraft. Es treten auf: vornehme Teekanne mit Tasse, ungehaltene Sessel mit Gesicht, wild gewordenes Uhrwerk, anschmiegsame Katze und Kater, Frösche, Libelle, Prinzessin, Eichhörnchen etc.. Ihnen allen hat Petra Staß wunderschöne, naturalistische Kostüme verpasst, ein Fest für die Augen. Das groß bestückte Orchester und die Sänger/innen liefern ein Fest für die Ohren, Ravels raffinierte Instrumentierung wird fein nuanciert hervorgehoben. Auch hier sitzen die Musiker auf der Bühne, bleibt den Tänzer*innen nur ein „Nudelbrett“. Lansdale verwendet Bewegungen, die weder den Ablauf der Handlung sichtbar vorwärts treiben noch die Typen über die Kostüme hinaus charakterisieren. Choreographische Langeweile stellt sich ein. Ravels skurriler Humor, unter dessen Oberfläche es brodelt, bleibt unbeachtet. Die existentielle Bedrohung des Kleinen, intensiv getanzt von Simona Tartaglione, wenn alle Tiere sich auf es stürzen, wenn Ravel Klanggewalten fast wie im Piratentanz aus „Daphnis und Chloé“ auffährt, gestaltet sich eher harmlos - wie auch die stilisierten Gewaltausbrüche, die Zerstörungswut des Kindes. Einige dramaturgische Ungereimtheiten, sowie die Originalsprache Französisch mit arg pauschalen deutschen Übersetzungstiteln auf dem oberen Rand des Bühnenportals, lassen die Spannungskurve weiter sinken.

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