Tom Schilling zum 75. Geburtstag

oe
Stuttgart, 23/01/2003

Fühlt er sich nun nach Gorbatschows Diktum vom Leben bestraft, weil er zu spät gekommen ist? Immerhin hat er das Verfallsdatum um 25 Tage überschritten, wenn er heute seinen 75. Geburtstag feiert: Tom Schilling, Ballettchef und Chefchoreograf der Komischen Oper in Berlin. Verpasst hat er so den Choreografenjahrgang 1927 von Béjart, Grigorowitsch, Cranko, Smok und Erich Walter. Den Eindruck eines Frustrierten macht er gleichwohl nicht, wenn man ihm heute begegnet. Eher scheint er erleichtert, dass er nach der Wende zum richtigen Zeitpunkt abgetreten und so dem heutigen Berliner Ballettchaos entronnen ist. Immerhin war die von ihm geleitete Kompanie 25 Jahre lang die erste Adresse des Balletts in der DDR, gehörte sein Name auch im Westen zu den renommiertesten Ballettautoren – und das ohne sich politisch im Mindesten etwas zu vergeben.

Das muss sogar Jochen Schmidt einräumen, der ihn als einzige Persönlichkeit der DDR – neben der eher hors concours fungierenden Palucca – in seine Ehrengalerie der 101 Choreografen des 20. Jahrhunderts aufgenommen hat – zusammen mit so weltberühmten Persönlichkeiten wie Lopuchow, Lawrowski und Grigorowitsch in der Abteilung „Die sozialistische Alternative“. Freilich nicht ohne zu sticheln, wenn er dem von Schilling in Anlehnung an Felsensteins „Musiktheater“ reklamierten „Tanztheater“ groben Etikettenschwindel vorwirft. Als ob das westliche Tanztheater im Gefolge Pina Bauschs einen Alleinvertretungsanspruch hätte!

Tatsächlich ist es Schilling nach seinen Lehrjahren in Dresden, Leipzig und Weimar gelungen, in einem Vierteljahrhundert an der Komischen Oper in Ostberlin nicht nur eine Kompanie von unverwechselbarer Identität mit einem auf sie zugeschnittenen Repertoire aufzubauen, sondern auch eine ihm und dem Haus treu ergebene Publikumsgefolgschaft, die nach seinem Abgang in alle Winde zerstoben ist (so, wie es in Westberlin nach dem Rückzug Tatjana Gsovskys geschah). Dabei hatte er das Glück, in Hannelore Bey und Roland Gawlik mit einem Traumpaar kreativ zusammenzuarbeiten, das der vollkommene Ausdruck seiner Ästhetik und seines Stils war. Genauso wie es für ihn ein Glück gewesen sein dürfte – auch wenn er das heute vielleicht etwas anders sieht – in Bernd Köllinger einen Adlatus gefunden zu haben, der ihm nicht nur die Libretti und die Dramaturgie für seine ganz persönliche Ballettästhetik lieferte, sondern ihm auch politisch den Freiraum schuf, den er zur Entfaltung seiner künstlerischen Persönlichkeit brauchte.

So gratuliere ich ihm zu seinem heutigen Geburtstag zu einer Lebensleistung, wie sie einzigartig ist in der Geschichte des Balletts in der DDR. Wobei mir bewusst wird, wie sehr uns eine Aufarbeitung jener 45 DDR-Jahre fehlt – wie sie Rolf Stabel in seiner Palucca-Biografie zumindest ansatzweise geliefert hat (und auch Monika Schneider in ihrem Beitrag zu dem höchst informativen Band „In memoriam Dr. Kurt Petermann“, auf den hier noch gesondert eingegangen werden soll).

Wünschenswert wäre eine Gesamtdarstellung, die den einzelnen Persönlichkeiten Gerechtigkeit widerfahren lässt – ich denke dabei an so integre Charaktere wie Grita Krätke, Steinweg und Groke, Werner Ulbrich, die Köhler-Richters, Marianne Vogelsang, auch an Dietmar Seyffert – aber natürlich auch an solche strammen Funktionäre des sogenannten Sozialistischen Realismus wie Lilo Gruber, Albert Burkat, Werner Gommlich und Eberhard Rebling – und an solche, deren Position ich nicht eindeutig bestimmen kann, à la Jean Weidt, Henn Haas – und an all die anderen, die sich darum bemüht haben, in schwierigen Zeiten ihren Job zu machen, in Rostock und Karl-Marx-Stadt, in Magdeburg und Gera, in Dessau und in Görlitz ...Wäre das nicht eine Aufgabe für den jetzt von Dresden nach Berlin übergesiedelten Ralf Stabel?

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