Tom Schilling zum 90. Geburtstag
Plädoyer für den tanzenden Menschen
Die Zugehörigkeit zum großen Geburtsjahrgang 1927 hat er zwar um dreiundzwanzig Tage verpasst, trotzdem wird man nicht behaupten können, dass Tom Schilling, der heute achtzig Jahre alt wird, – frei nach Gorbatschow –, vom Leben bestraft worden sei. Im Gegenteil: er war der angesehenste Ballettmann der DDR, und das weit über die Grenzen der sozialistischen deutschen Republik hinaus, der auch nach 1989 mit aufrechtem Haupt herumlaufen konnte. Bis Ende der Spielzeit 1992/93 Ballettdirektor der Komischen Oper in Berlin, ist es seither ziemlich still um ihn geworden, hat es in den letzten Jahren nur noch vereinzelt Einstudierungen seiner Ballette gegeben (zuletzt wohl in Dresden von seinen vielgespielten „Wahlverwandtschaften“ nach Goethe und Schubert) – und das verwundert denn doch, denn während der Existenz der DDR gehörte er zu den meistaufgeführten Choreografen des Landes – auch war er fast der einzige, der auch im ‚feindlichen‘ westlichen Ausland gearbeitet hat, und der mit seiner Kompanie laufend in halb Europa gastiert hat.
Schon jetzt ist es einigermaßen schwierig, seine Karriere zu rekonstruieren – außerhalb der Jahresresümees der einzelnen Theater, an denen er gearbeitet hat – was mich einmal mehr veranlasst, die Bringschuld der ostdeutschen Kollegen, was die Ballettgeschichte der DDR angeht, einzuklagen. Gewiss, das alles kann man sich in den Bibliotheken mühsam zusammensuchen, aber es fehlt doch das Standard-Nachschlagewerk, das so gut ins Programm der Seemann Henschel Verlagsgruppe passen würde.
Geboren wurde Tom Schilling also am 23. Januar 1928 in Epperstedt in Thüringen. Ausgebildet wurde er an der Dessauer Opern-Ballettschule und erhielt seine ersten Tänzerengagements in Dresden, Leipzig (1946-52) und Weimar (1953-56), wo er auch zu choreografieren begann. In meinem Archiv taucht sein Name zum ersten Mal auf einem leider undatierten Besetzungszettel des Leipziger Opernhauses auf, wo ich ihn als Teufel in der Höllenfuge von Jaromir Weinbergers „Schwanda der Duedelsackpfeifer“ entdecke. Das dürfte also während meiner Studienzeit in Halle gewesen sein – so etwa 1947/48. Er hat dann ziemlich rasch Karriere gemacht, war Ballettdirektor und Chefchoreograf an der Dresdner Staatsoper von 1956 bis 1964 und anschließend dann an der Komischen Oper in Ostberlin, das sich schon bald als Tanztheaterensemble noch vor Pina Bausch in Wuppertal einen Namen machte.
Dort schuf er Dutzende von überwiegend erfolgreichen Balletten sowohl großen, abendfüllenden Formats wie auch intimer kammertänzerischer Dimension. Sie entstanden fast alle in enger Zusammenarbeit mit seinem Chefdramaturgen Bernd Köllinger, der seit Mitte der der neunziger Jahre dem Bewusstsein der deutschen tanzinteressierten Öffentlichkeit völlig verloren gegangen ist, und heute offenbar irgendwo im Brandenburgischen residiert (im Internet taucht sein Namen gelegentlich als Textautor von lokalspezifischen Shows auf – ich möchte ihn dringend ermutigen, sich doch einmal zu melden, denn ich bin überzeugt, dass er viel Persönliches aus seinen Erfahrungen in der DDR zu berichten hätte).
Jedenfalls waren es durchaus glanzvolle Jahrzehnte, ja ein volles Vierteljahrhundert, in denen das Tanztheaterensemble der Komischen Oper unter der Leitung von Tom Schilling, nicht nur in Ostberlin und der DDR konstant Aufmerksamkeit auf sich zog – gehörten seine Stars wie Hannelore Bey, Jutta Deutschland und Roland Gawlik zu den bekanntesten Tänzerpersönlichkeiten in Ost und West, übertrafen die meisten der dortigen Produktionen die Hervorbringungen der Deutschen Staatsoper Unter den Linden an künstlerischer Kreativität und Potenz. Übrigens waren Schilling und John Cranko gut miteinander befreundet, nachdem sich die beiden beim Tänzerwettbewerb in Varna kennengelernt hatten – wenn ich mich recht erinnere, war „Jeu de cartes“ das einzige Ballett von Cranko, das 1969 von einer Kompanie der DDR getanzt wurde, an der Komischen Oper in Ostberlin.
Was dieser so erfolgreiche Mann aus seinem Leben so alles zu erzählen hätte! Gerade auch im Hinblick auf sein so anderes Tanztheaterverständnis im Gefolge von Felsensteins Musiktheater-Ästhetik – also im Gegensatz zu der Tanztheater-Ästhetik, wie sie sich bei uns im Westen im Gefolge von Bausch, Kresnik und Bohner entwickelt hat. Darum empfinde ich es als eine große Ungerechtigkeit, wenn ihm Jochen Schmidt im Zweieinhalb-Seiten-Kapitel seines Buches „Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts“ (wo er als einziger Choreograf neben Juri Grigorowitsch in der Abteilung „Die sozialistische Alternative“ fungiert) am Ende der durchaus fairen Behandlung seines Oeuvre Schillings Inanspruchnahme der Bezeichnung „Tanztheater“ für sein Schaffen als „groben Etikettenschwindel“ brandmarkt. Da wüsste ich Dutzende von Choreografen zu nennen, deren Berufung auf den Tanz in ihrem Verständnis als Tanztheaterautoren mir viel stärker als „grober Eikettenschwindel“ erscheint. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihm in Berlin in einer der Ballettvorstellungen begegne, kann nur bedauern, wie sehr es mit dem Ballett an der Komischen Oper nach seinem Ausscheiden abwärtsgegangen ist und wünsche ihm zu seinem Geburtstag alles Gute, vor allem rüstige Gesundheit und ein glückliches Leben. Und wenn ich denn könnte, würde ich ihn zu einem Ehrenmitglied unseres ‚großen‘ Ballettjahrgangs 1927 ernennen!
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