Erlösungssüchtiger Taumel
Das neue Berliner Staatsballett mit Wagners/Béjarts „Ring“
Am Ende des Abends feiert Berlin den Choreografen mit stehenden Ovationen. Wie einst am Beginn dieser Liebesaffäre, vor fast einem halben Jahrhundert, als ein gewisser Maurice Béjart mit seiner kleinen Pariser Kompanie erstmals an der Spree gastierte, unbekannt noch und doch schon ein Geheimtipp. In Berlin habe seine Weltkarriere ihren Anfang genommen, versichert er bis heute. Und hat sich im Jahr seines 50-jährigen Bühnenjubiläums gebührend revanchiert. Kaum ein Thema, dem sich der frühe Verfechter existenzialistischen Gedankenguts in seinen gehaltvollen Bühnenkreationen nicht genähert hätte: Kulturen und Kontinenten, Religionen und Revolutionen, Philosophien und Prophetien, auf weltweiten Tourneen gern auch in Sportstadien und Amphitheatern gezeigt – zum Jubel seiner gewaltigen Fangemeinde. Unter den Künstlern, die ihn zur Auseinandersetzung anregten, Rimbaud, Malraux und Mahler etwa, ist Richard Wagner die präferierte Gestalt. Was bis dahin niemand gewagt hatte, dessen „Ring“ in den Tanz zu transponieren, gelang Béjart. 1990 erlebte sein, wie er selbst es nennt, Essay „Ring um den Ring“ an der Deutschen Oper eine bewunderte Uraufführung. Knapp 15 Jahre später kehrte jenes Monumentalwerk von beinah fünfstündiger Dauer nun an seinen Ursprungsort zurück.
Nicht um tänzerische Wagner-Illustration geht es dabei, sondern um Annäherung an ein Phänomen, den Kommentar, die paraphrasierende Lesart. Musikalisch wird jener Tanzmonolith auch nicht vom reinen Opernklang, sondern einer Collage aus Live-Klavier, Klavier vom Band und ausschnittsweise der Einspielung erlesener Plattenaufnahmen getragen. Arbeitsatmosphäre verbreitet dieses Verfahren, und die setzt sich auch in der Inszenierung fort. Sie spielt in einem riesigen Ballettsaalhalbrund (Peter Sykora), in dem das zweietagige Ambiente des Mariinsky-Studios in Petersburg auf einen modernen Trainingsraum mit Spiegeln stößt. Zwischen Probe und Aufführung pendelt dort das verzwickte Geschehen um Gold und Macht, Liebe, Betrug und Verrat. Michael Denard als Sprecher zitiert ausgewählte Texte Wagners, ist gleichsam alter ego des Wanderers und Wotans und agiert, wie auch die Pianistin Elizabeth Cooper, stücklang auf der Szene mit.
Der Abend beginnt mit der Weltenschöpfung. Erda, die uralte Erdgöttin, wohnt weißgeschminkt dem Akt bei, wie sich Wotan am Quell der Erkenntnis labt, durch aufblitzendes Feuer ein Auge verliert, eine Lanze von der Weltesche bricht und ordnend Geschöpfe schafft: helle, die Götter, und dunkle, die Nibelungen. Alberichs Entscheidung für Gold, gegen Liebe setzt die Kaskade aus Rache, Intrige und Mord in Gang. Als am Ende jeder jeden vernichtet hat und somit alle Freveltat entsühnt ist, kracht das alte System mitsamt seinem Götterhimmel zusammen. Durch einen Riss im Mauerwerk schreitet der Wanderer wieder dem Nebel einer Neuschöpfung entgegen. Was Béjart an suggestiven Bildern für sein gigantisches Opus aufbietet, ist überwältigend, eigenständig in der Komposition und oft von asiatischer Bühnenkunst inspiriert. Barfußtanz trifft auf Spitzentechnik, klassisches Arsenal auf Tango, Stepp und freie Gestaltung von Béjartscher Erfindungskraft. Dramatik wird mit Komik gebrochen, die Lanze fungiert als Ballettstange, die Gruppe mutiert von Soldaten zu Walküren und Tänzern im Balanchine-Dress. Sehr individuell geformte Duette von beachtlicher Länge bilden indes das Rückgrat einer einzigartigen Kreation, die ihre Solisten immens fordert. Großartig Nadja Saidakova als rächend liebende Brünnhilde und Diana Vishneva als eifersüchtige Fricka, Martin Buczkó als körperplastischer Alberich und Dinu Tamazlacaru als komödiantischer Mime, Ibrahim Önal und Polina Semionova als Siegmund und Sieglinde, Vladimir Malakhov als Loge von noch verhalten diabolischem Furor, Marian Walter als kindlicher, Michael Banzhaf mit gepfeffertem Tanzpensum als junger Siegfried. Dem Staatsballett schlug mit dieser Tour de force seine eigentliche Gründungsstunde, und in seinen Beinen, so Béjart, soll der „Ring“ auch ausschließlich bleiben.
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