Vladimir Malakhov kündigt seinen Rücktritt an
Vladimir Malakhov verlängert seinen Vertrag als Intendant des Staatsballetts Berlin nicht über die Spielzeit 2013|2014 hinaus.
Eigentlich kann man nur Wagnerianer hinschicken, weil nur sie die komplizierte Handlung mit den an die dreißig verschiedenen Rollen überhaupt verstehen. Oder man kann sie gerade nicht hinschicken, weil ihnen die Musik-Collage ketzerisch erscheinen muss, die Béjart für sein viereinhalbstündiges „Ring“-Ballett zusammengebastelt hat. „Best of“-artige Tonbandeinspielungen aus dem „Ring des Nibelungen“ gehen nahtlos in live gespielte Klavierparaphrasen über, dazwischen rezitiert, zerdehnt oder skandiert der ehemalige Tänzer und Ballettdirektor Michaël Denard Textpassagen aus dem „Ring“.
Maurice Béjart will unbedingt die gesamte Handlung mit allen Personen erzählen, dabei gerät manches zur bloßen epischen Bebilderung oder zur dekorativen Einlage, wie die präraffelitischen Jungfrauen zu den Frühlingsgefühlen der „Walküre“. Béjart betrachtet das riesige Welt-Erklärungswerk von der buddhistischen, der Schopenhauer-Seite her, obwohl er auch die politischen Aspekte aufgreift, den Kampf zwischen Gesetz und Anarchie. Manchmal stürmt das Corps mit diesem typisch Béjartschen Sechziger-Jahre-Partisanen-Pathos über die Bühne, das heute einfach antiquiert erscheint – wie so einiges in diesem Monumentalspektakel nach den fast fünfzehn Jahren, die seit der Uraufführung vergangen sind. Selbst Denards schicke Lederjacke sieht heute nach alterndem französischen Rockstar aus. Aber dann gibt es wieder Momente, in denen der Choreograf Béjart uns tiefer blicken lässt als jeder Opernregisseur, in denen seine verdoppelten oder geteilten Figuren, in denen die Spiegelung des „Rings“ in der Ballettwelt plötzlich frappierende, hellsichtige Einblicke in Wagners Philosophie eröffnen. Wenn Béjart zum Beispiel exakt den Moment in der Tetralogie findet, an dem Wotan aufgibt, an dem der „Ring“ in den Pessimismus kippt, oder wenn ein Pandämonium all der Toten und vergangenen Figuren zu Siegfrieds Trauermarsch über die Bühne irrt. Und der tief bewegende Schluss, wenn Denard die Worte spricht, die Wagner für Brünnhildes Schlussmonolog geschrieben, aber nie vertont hat. „Enden sah ich die Welt“ – Wotan der Wanderer wird zum irrenden Parsifal, die Suche nach Erlösung geht auf einer anderen, höheren Ebene weiter.
Trotz aller aufblitzenden Genialität – gegenüber früher hat das Stück verloren, und daran ist in vielen Fällen die Besetzung schuld. Einigen Berliner Tänzern fällt es schwer, die „leeren“ Bewegungen der Danse d′école mit Inhalt zu füllen, also ganz im Sinne der Béjartschen Verlegung der Handlung in einen Ballettsaal die Stange (gleich Wotans Speer, das Gesetz) zu verlassen und ihre Gliedmaßen in die Freiheit zu entlassen, in die wilde Anarchie, wo eine Bewegung nicht einfach schön ist, sondern eine Bedeutung hat, wo sie eine Emotion ausdrückt oder einen Charakterzug schildert. Letzteres gelingt vor allem den Tänzern in den Charakterrollen hervorragend: Martin Buczkó als gequältem Alberich oder Dinu Tamazlacaru als drollig-schleimigem Mime, Robert Wohlert als knallhartem Hunding und Wieslaw Dudek als getriebenem, dämonischem Hagen. Die großen Hauptrollen aber lassen jede Menge Fragen offen. Einzig Michael Banzhaf und Marian Walter als älterer und junger Siegfried sind locker, frei und schnell, sie treffen perfekt die Unschuld und Unbekümmertheit des blonden deutschen Helden. In der zentralen Rolle von Wotan/Wanderer aber bleibt Artem Shpilevsky, anders als sein älterer Doppelgänger Alexej Dubinin, mehr als blass. Ibrahim Önal fehlten als Siegmund Kraft, Spannung und jedes Rollenverständnis. Nicht einmal Nadja Saidakova kann ihre Wandlung von der wilden Walküre zur Welten-Retterin Brünnhilde ganz ausloten – sie beschließt den Abend sehr ergreifend als liebende, leidende Wissende, aber weil sie am Anfang nicht hart und athletisch genug war, weil sie zuwenig schnelle Forsythe-Dynamik hatte, wird einem die tiefe, inhaltlich so wichtige Veränderung der Erlöserinnen-Figur kaum bewusst. Ballettchef Vladimir Malakhov tanzt den Feuergott Loge, eine Rolle, die einst für den dämonischen Gil Roman kreiert wurde. Schon länger verliert Malakhov an Kraft und seine superbe Technik ist kaum mehr so außergewöhnlich wie früher. Aber nun lässt auch noch seine Faszination nach, die Fähigkeit, Charaktere traumwandlerisch sicher zu erspüren und aus der Musik heraus zu entwickeln. Sein Loge ist ein harmloser Clown und hat nichts von der zynischen Todesfigur, die (wie bereits bei Wagner angedeutet) als Zweifler und nihilistischer Conférencier außerhalb der Handlung steht. Auch die verpuffte Wirkung des Schluss-Pas-de-deux geht auf Malakhovs Kosten – Brünnhilde stürzt sich „ins Feuer“, in einen fatalistisch-erlösungssüchtigen Tanz mit dem Feuergott, und der bietet ihr hier keinerlei Gegenüber, keinen Trost, keine Extase.
Es sind ausgerechnet zwei rein klassisch gebildete Russinnen, die den zaghaften Berlinern zeigen, wie man Béjart tanzt. Diana Vishneva vom Mariinsky-Ballett zelebriert Wotans Gattin Fricka, die Hüterin der Regeln, in kühler Faszination, jede Krümmung der Hand strahlt in den Saal hinaus und hat eine Bedeutung. Die blutjunge Polina Semionova (Sieglinde) tanzt zum ersten Mal Béjart und kommt auf die Bühne, als hätte sie zehn Jahre nichts anderes gemacht. Ihre Hände schreien, ihre Augen klagen an, ihre Bewegungen verlieren alle klassische Kontrolliertheit und ihr feingliedriger Körper wird vollkommen zum Instrument des Ausdrucks. Sie, nicht der tragisch welkende Malakhov, ist der Star dieses Staatsballetts – und hoffentlich merken das die Berliner rechtzeitig, bevor sie ein Choreograf wie Béjart oder Neumeier wegholt und zu seiner Muse macht. Maurice Béjart aber hat wie so manche Choreografen im Zentrum eines Kults ein wenig die Fähigkeit zur Selbstkritik verloren und erkennt nicht mehr, dass der Hauch von Vorgestrigkeit nur dann aus seinen Balletten verschwindet, wenn sie von wirklich großartigen Tänzer-Darstellern interpretiert werden.
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