Die Wand oder „Giselle“
Das English National Ballet im Festspielhaus St. Pölten mit Akram Khans vielbeachteter „Giselle“-Inszenierung
Geboren als Kind von Einwanderern aus Bangladesh, ist der britische Choreograf Akram Khan innerhalb kürzester Zeit zu einem Star der kreativen Londoner Tanz-Szene aufgestiegen. Mit seinem neuesten Werk „Ma“, zu deutsch „Erde“, gastierte der soeben mit dem Movimentos-Tanzpreis Ausgezeichnete bei den Ludwigsburger Festspielen. Die Karlskaserne war eine der ersten Stationen auf einer mehrjährigen Welttournee von „Ma“, gleich neun Tanzfestivals und Tanzhäuser von Singapur bis New York sind an der Produktion beteiligt – ein echtes globales Kunstwerk, auch bei den Mitwirkenden. Beteiligt an der etwa siebzigminütigen Aufführung waren der italienische Komponist Riccardo Nova, der britisch-pakistanischstämmige Drehbuchautor Hanif Kureishi, finnische Bühnen- und Licht-Designer und ein experimentelles Musikensemble aus Belgien, auf der Bühne stehen ein pakistanischer Sänger, ein indischer Trommler, eine britische Cellistin und sieben Tänzer aus fünf Ländern.
Wie passt das bloß alles zusammen? Theatermagier Akram Khan macht es passend. Denn seine Kunst ist die Fusion, das Verschmelzen von ethnischem Theater mit modernster Technik, von traditionellem indischen Tanz mit HipHop- und Tanztheater-Elementen. Wenn das Ganze am Schluss, völlig abseitig, auch noch vom Louis-Armstrong-Song „It‛s a wonderful world“ gekrönt wird, dann ahnt man, wohin diese Geschichten über die Erde, die Menschen und die wachsenden Bäume zielen – und einen verzauberten Moment lang glaubt man ihm, dass die Welt wunderschön ist. Bis sich bitter und störend ein Cello einmischt. Das vorherrschende musikalische Element aber ist eines, das wir mit unseren melodienseligen Bollywood-Vorurteilen bestimmt nicht erwartet hätten: Scat-Gesang, also das stark rhythmische, einzeln oder im Chor gesprochene „dum-da-di-da-dum“ (in der klassischen indischen Musik Tarana oder Thillana genannt).
„Da“ bedeute hinauf und „dum“ bedeutet hinab, erklärt Akram Khan mit einem hintersinnigen Lächeln und den entsprechenden Handbewegungen. Als man nach einer halben Stunde überlegt, ob Hanif Kureishis Text-Beitrag denn wirklich in der Anordnung von da-dum und da-di bestanden hat, da erzählt uns Akram Khan endlich eine Geschichte: wie er als Junge kopfüber am Baum hing, seine Gedanken auf die Erde tropfen ließ und sich von ihr Klarheit erwartete. Dieses Kopfüber zieht sich als Leitmotiv durch die Aufführung: immer wieder drücken die Tänzer in ihren leuchtend braunen Gewändern den Kopf auf den Boden, als wollten sie sich frontal hineinbohren oder als lauschten sie an der Erde. Sonst aber ist ihr Tanz geradezu explosiv, ihre Körper werden von einer unglaublichen, lustvollen Spannung durchpulst. Es sind synkopierte, rhythmische Bewegungen voller Energie, als würden den Tänzern die Impulse der Trommeln direkt in den Körper fahren, wie bei Derwischen. Immer wieder mischt sich die gezierte, stilisierte Handhaltung aus dem indischen Tanz hinein, später gibt es einen langsamen Teil und gegen Schluss, als mehr gesprochen wird, auch ironische Brechungen.
Obwohl er die meiste Zeit im Hintergrund bleibt, ist Akram Khan selbst sein bester Interpret – wenn er spricht, erzählen gleichzeitig seine Hände die Geschichte, mit so eloquenten, fließenden und schönen Bewegungen, dass jede Ballerina neidisch werden muss. Keine Frage, der kahlköpfige Inder mit dem verschmitzten Lächeln ist nicht nur Choreograf oder Tänzer, sondern er ist einer von den Gesamtkunstwerkern wie Bob Wilson, Achim Freyer oder Julie Taymor, die sämtliche Bühnenkünste zu einem magischen Theaterabend verschmelzen können.
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