„Endstation Sehnsucht“ als Horrortrip
Triumphale Neueinstudierung mit Gaststar Neumeier Ferri
Alessandra Ferri gastiert als Blanche du Bois in „Endstation Sehnsucht“
Ist es eigentlich schon gar so lange her, dass Gastspiele von Sängern und Tänzern der internationalen Spitzenkategorie in Stuttgart dem Repertoire-Alltag sozusagen die Sahnehäubchen aufsetzten? In der Oper haben sie ganz und gar aufgehört, leider – denn ganz sind sie auch in der Schwabenmetropole noch nicht ausgestorben, die Fans, die sich an tollen Stimmen und virtuosen Gesangsleistungen ergötzen. Auch sie würden gern einmal eine Nathalie Dessay, eine Anna Netrebko, eine Magdalena Kozena, einen Juan Diego Flórez, einen Neil Shicoff oder einen Thomas Hampson live auf der Bühne erleben. Aber dazu müssen sie schon nach Baden-Baden, München oder Zürich fahren, oder sich mit deren Konzertauftritten in Ludwigsburg begnügen. Und an Gastspiele eines ganzen Opernensembles aus Wien, Glyndebourne oder St. Petersburg ist schon gar nicht zu denken. What a pity!
Im Ballett ist es nicht ganz so schlimm. Da kriegt man schon mal hin und wieder einen der Weltstars zu sehen, wenn auch deren Auftritte selten geworden sind im Vergleich zu früher – und die noch rareren Gastspiele einer ganzen großen Kompanie sich inzwischen auf diejenigen Ensembles beschränken, die ihrerseits einen freundlichen Austausch mit dem Stuttgarter Ballett pflegen. Was ja eine Einladung an eine der „Großen Fünf“ praktisch ausschließt – nach Malakhovschem Rating also das Mariinsky, Pariser Opéra, Covent Garden, ABT und Berliner Staatsballett. Dabei wären wir ja schon glücklich, wenn wir mal wieder solche nach Malakhov also zweitrangigen Ensembles wie das New York City Ballet, das neue Bolschoi-Ballett oder die Königlichen Dänen zu sehen kriegten!
Jetzt war also wieder für zwei Vorstellungen Alessandra Ferri als Blanche Du Bois in „Endstation Sehnsucht“ zu Gast – und die hochgestimmten Erwartungen im Schauspielhaus stiegen prompt um ein paar Hitzegrade. Was ja auch kein Wunder ist, handelt es sich doch ohnehin um eine der spannendsten Kreationen Neumeiers, für die das Stuttgarter Ballett – auch ohne Marcia Haydée und Richard Cragun – eine eigene 1a-Besetzung bereithält, die aber an diesem Abend, angespornt durch die Weltklasseballerina aus Mailand, noch einmal ein paar tänzerische PS zugelegt hatte.
Das gilt nicht nur für ihren Partner Jason Reilly, der seinen Stanley Kowalski jetzt nicht mehr so brutal machohaft, sondern freundlicher und lockerer und sogar lächelnder anlegt als noch vor ein paar Monaten, wohl weil sich seine anfängliche Ehrfurcht vor der Starkollegin inzwischen in ein eher partnerschaftliches Verhältnis verwandelt hat. Sondern auch für Katja Wünsches so lebenssprühende und total in ihren Mann verliebte Stella, für Mikhail Kaniskin und Marijn Rademaker als die beiden schicksalhaft verbundenen Freunde (und besonders für Kaniskin in seinem Zweitauftritt als Zeitungsjunge, in dem Blanche ihren Verlobten wiederauferstanden wähnt) und den wunderbar warmherzigen Ivan Gil Ortega als Mitch, der dem Sternen-Pas-de-deux mit Blanche eine geradezu verklärende poetische Magie verleiht.
Wie Ferri im Prolog auf ihrem Bett in der Irrenanstalt dasitzt, völlig verkrampft, lässt an Edvard Munchs „Der Schrei“ denken – aber es ist ein Schrei, der verstummt, der ganz nach innen gewendet ist und alle ihre Gliedmaßen bis in die Fingerspitzen lähmt. Und niemals vermuten lässt, welch differenzierter Schwingungen diese zutiefst verstörte Seele einmal fähig war, die sie dann in der Retrospektive so überwältigend wiederaufleben lässt – in diesen Myriaden von Ausdrucksnuancen, die jede ihrer Gesten, ja jeden Augenaufschlag zu einem Vexierspiegel ihrer wie eine Fieberkurve oszillierenden Befindlichkeit machen. Wie sie Tennessee Williams' müde Südstaatendekadenz italienisiert und in die erotische Morbidezza eines Gabriele d'Annunzio transferiert. Wie sie dieser Blanche du Bois eine Aura verleiht, die sie wie eine dieser Welt bereits Abhandengekommene erscheinen lässt.
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