Für nichts als die Rolle leben

Ein Interview mit Alessandra Ferri

Stuttgart, 09/01/2004

Zwanzig Jahre nach der Uraufführung wird in Stuttgart John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ neu einstudiert – das Ballett nach Tennessee Williams' Südstaaten-Drama entstand damals für die große dramatische Ballerina Marcia Haydée. Heute tanzt Alessandra Ferri die Rolle der verblühenden Südstaaten-Schönheit Blanche Du Bois. Die weltberühmte italienische Tänzerin, heute die Primaballerina der Mailänder Scala, war Solistin beim Royal Ballet in London, beim ABT in New York und gastierte auf allen wichtigen Bühnen der Welt.
 

tanznetz: Wie gefallen Sie sich mit einer blonden Perücke?

Alessandra Ferri: Ich war auch vorher schon blond – als ich vor vielen Jahren „Manon“ mit dem Royal Ballet tanzte. Kenneth MacMillan wollte, dass ich blond bin. Später erlaubte er mit wieder meine eigenen, dunklen Haare, aber er dachte, dass sich eine Frau mit einer anderen Haarfarbe anders bewegen würde. Und er hatte recht – er ließ mich die Rolle mit völlig anderen Augen sehen, und als ich dann wieder mit meiner eigenen Haarfarbe tanzte, blieb dieses Gefühl in mir erhalten. Ich wusste, dass John Neumeier sich Blanche Du Bois blond vorstellt. Die Perücke hilft dabei, sich ein wenig anders zu fühlen, als wäre man der Welt abhandengekommen. Vor allem bei dieser Figur, die so stark neben ihrer Zeit steht, so sehr in ihrer ganz eigenen Welt.

tanznetz: Hat John Neumeier die Rolle der Blanche für Sie geändert?

Alessandra Ferri: Er arbeitet sehr gerne mit den Tänzern, die er vor sich hat – Gott sei Dank! Das ist das Wunderbare, wenn man mit einem Choreografen direkt arbeiten kann und nicht nur eine Rolle nachtanzt, deren Erfinder schon tot ist. Manchmal verändert er sogar die Pas de deux, weil er beim Einstudieren eine neue Idee hat. Es ist immer ein Work in Progress, man wiederholt nicht einfach stur das, was einmal gemacht wurde. Er hat heute völlig andere Tänzer vor sich, und schon deren andere Bewegungsqualität veranlasst ihn, manches zu ändern. Bei John ist es immer die Frage, wie man ihn stoppt – wenn er die Zeit hätte, würde er endlos weiterarbeiten...

tanznetz: Sie arbeiten zum ersten Mal mit John Neumeier. Bisher haben Sie nur einen Pas de deux aus der „Kameliendame“ mit ihm erarbeitet.

Alessandra Ferri: Ich sollte das ganze Ballett tanzen, wurde damals aber schwanger. Aber schon in den wenigen Tagen, die wir an dem Pas de deux arbeiteten, empfand ich eine gemeinsame Sensibilität. Ich wusste immer, wovon er spricht, ich verstand ihn einfach. Als John Neumeier und Reid Anderson nachdachten, wer sie tanzen könnte, fiel ich ihnen ein, und ich habe instinktiv ja gesagt. Die Blanche ist eine unglaubliche Rolle, eine der schwierigsten Rollen im Ballett überhaupt, da bin ich sicher. Ich arbeite sehr gerne so, dass ich das Lesen und die ganze Forschung mit dem Kopf lange vor dem Ballett mache, bevor ich überhaupt anfange, die Rolle zu erlernen. Und dann will ich vergessen, was ich gelesen habe, denn wenn einen das Gelesene beeindruckt hat, dann bleibt es in einem, selbst wenn man nicht darüber nachdenkt. Bei der Arbeit mit John Neumeier an der Choreografie versuche ich, nicht zu sehr mein Gehirn zu benutzen, sondern alles ganz von alleine, von innen kommen zu lassen.

tanznetz: Sie haben mit den berühmtesten männlichen Partnern auf der ganzen Welt getanzt. Ihr Partner in Stuttgart ist mit Jason Reilly jetzt ein sehr junger Tänzer, der erst vor kurzem zum Ersten Solisten aufgestiegen ist. Hatte er Ehrfurcht oder gar Angst vor dem berühmten Weltstar?

Alessandra Ferri: Oh ja, am Anfang schon. Für ihn ist es deswegen schon schwer, weil er so brutal zu mir sein muss, deshalb hat er sich am Anfang auch ständig entschuldigt... aber das haben wir schnell hinter uns gelassen. Er ist wunderbar. Als ich ihn zum ersten Mal traf und er ein so netter Mensch war, dachte ich „Du meine Güte, wie will er das nur machen?“, denn Stanley Kowalski ist ganz bestimmt keine nette Person. Aber er hat unglaubliches Talent und einen starken Instinkt – es kommt alles von innen, sein Talent ist instinktiv, und das ist immer am besten, weil es bedeutet, dass es ganz tief im ihm wurzelt. Das war also eine wunderbare Überraschung. Diese ganze Kompanie war eine wunderbare Überraschung! Ich kenne das Stuttgarter Ballett seit vielen Jahren und hier ist zurzeit so viel Talent versammelt! Sie sind alle so jung, aber auf geheimnisvolle Weise wissen sie alle genau, um was es geht – das muss einfach an Reid Anderson liegen! Ich bin sehr gerne bei dieser Kompanie. Obwohl sie so jung sind, spürt man nur Enthusiasmus, aber keinerlei Unerfahrenheit – und das ist wichtig, denn Unerfahrenheit kann manchmal eine große Barriere sein.

tanznetz: Sie sind eine der wenigen Tänzerinnen, die Kenneth MacMillans Julia und John Crankos Julia getanzt hat. Wo liegt der Unterschied?

Alessandra Ferri: Mit MacMillans Julia bin ich praktisch geboren. Sie ist in meinem Blut, sein „Romeo“ ist das Ballett, das ich wahrscheinlich am meisten von allen getanzt habe, sicher über hundert Aufführungen auf der ganzen Welt. Seine Julia ist meine zweite Haut, meine zweite Natur, es ist eine Rolle, die ich bis ins kleinste Detail in- und auswendig kenne. Crankos „Romeo“ habe ich leider nur einmal getanzt, mit dem National Ballet in Toronto. Ich kam mir damals schlecht vorbereitet vor, ich hatte nicht das richtige Coaching. Niemand hatte wirklich Zeit dafür... das war, bevor Reid Anderson dort Direktor wurde. Ich habe „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ sehr viel öfter getanzt, diese beiden Ballette liebe ich sehr und fühle mich als ein Teil von ihnen. Crankos „Romeo“ würde ich sehr gerne noch einmal lernen. Es ist sehr interessant, einen Stoff in zwei verschiedenen Versionen zu tanzen – ich habe zum Beispiel Ashtons „The Dream“ und Balanchines „Midsummer Night's Dream“ getanzt. Man nimmt mit, was man über eine Figur gelernt hat und betrachtet es dann unter völlig anderen Gesichtspunkten, dadurch dringt man immer tiefer in den Charakter ein, den man tanzt.

tanznetz: Sie gelten als dramatische Ballerina und großartige Tanz-Aktrice, wie es zum Beispiel auch Marcia Haydée war. Aber Sie scheinen eine der letzten dieser Art zu sein – warum gibt es heute keine großen dramatischen Ballerinen mehr?

Alessandra Ferri: Aus Mangel an Choreografen. Meine Generation hatte das Glück, noch solche Leute wie Cranko, MacMillan, Ashton zu treffen, die Tänzer in den Staaten kannten Balanchine noch: Choreografen, die wirklich mit den Leuten arbeiteten, die vor ihnen standen, denen der Tanz als Theater am Herzen lag. Der Tanz war für sie nicht nur eine Kunst, die aus Energie und Formen bestand, sondern sie wollten Theater machen. Die jungen Tänzerinnen kennen das heute einfach nicht. Es gibt Neumeier, es gibt Roland Petit, mit dem zu arbeiten faszinierend ist, weil er ein Mann des Theaters ist. Béjart vielleicht... es sind so wenige, und deshalb können nur so wenige Tänzer mit ihnen arbeiten. Die jungen Tänzer wissen einfach nicht, was man alles leisten muss, wie weit man gehen muss. Als MacMillan noch am Leben war und man von ihm eine Rolle anvertraut bekam, hat man sich in die Forschung gestürzt, man las Bücher, man sah sich Bilder an, die die Figur vielleicht beeinflusst hatten, die man spielte... Für eine Zeitlang lebte man für nichts als diese Rolle! Das passiert heute einfach nicht mehr. Man lernt die Schritte, man tanzt sie auch ganz toll, man sieht vielleicht ein paar Videos, und das war's. Daran hat niemand Schuld, so ist einfach die Zeit.... Wenn ich heute eine Rolle lerne oder einstudiere, dann gehe ich so an sie heran, wie ich es damals bei Kenneth MacMillan gelernt habe. Aber wenn man 22 Jahre alt ist und das noch nie gemacht hat, dann weiß man nicht einmal, dass so etwas möglich ist! Ich habe damals noch mit Antony Tudor gearbeitet, mit Agnes De Mille – all diese Leute wussten einfach, was wichtig ist. Damals war es einfach großartig, am Theater zu sein. Und deshalb ist es zum Beispiel so wichtig für die Tänzer hier in Stuttgart, mit John Neumeier zu arbeiten - man lernt ein Stück ganz anders.

tanznetz: Können Sie sich vorstellen, ihr Wissen weiterzugeben?

Alessandra Ferri: Ja. Manchmal schaue ich die jungen Mädchen an, wie sie ihre Rollen spielen, und möchte am liebsten „Nein, halt!“ rufen und sie coachen. Das würde ich gerne machen – und ihnen zeigen, dass es auch noch eine ganz andere Welt gibt.

Kommentare

Noch keine Beiträge