Liebe und Tod in Zeitlupe

Das Stuttgarter Ballett ertanzt sich mit John Neumeiers „Othello“ einen Triumph

Stuttgart, 26/04/2008

Wildes Geschrei auf der Bühne, ein lautes Durcheinander aus Soldaten in Tarnanzügen, Botticelli-Mädchen und Tänzern in neutralen Trikots. „Othello“ klingt zunächst nach Kresnik, lässt sich mit seinen deutlichen Verfremdungseffekten an wie grelles Tanztheater - und zelebriert dann fast drei Stunden lang eine Preziose aus dem Hamburger Neumeier-Museum, Abteilung 80er Jahre. Als Ausflug in die Off-Szene entstand „Othello“ vor 23 Jahren für die Hamburger Kampnagel-Fabrik, zu einer Zeit, als allein das Motto „raus aus dem Opernhaus“ schon ein Zeichen setzten konnte.

Bei allen Zweifeln, die im Laufe dieses Abends entstehen, versteht man sehr schnell, warum Ballettintendant Reid Anderson das Stück jetzt nach Stuttgart geholt hat: Hier können seine Tanzschauspieler ihre Kunst beweisen und erweitern, was vor allem Jason Reilly und Marijn Rademaker auf grandiose Weise nutzen. Die Stuttgarter Kompanie lässt dem Ballett über den „Mohren von Venedig“ eine spannende Aufführung von höchster Intensität angedeihen, dennoch macht der Neuerwerb im Repertoire nicht vollkommen glücklich. Mitten im anfänglichen Lärm blicken sich Othello und Desdemona in die Augen - wie in konzentrischen Kreisen geht von diesem Moment der ersten Liebe eine Ruhe aus, das Chaos erstirbt. Aber sofort tauchen die zwei Gestalten auf, in denen sich der schwarze Feldherr und die zarte Adelstochter fortan spiegeln werden: Botticellis Primavera und der wilde Krieger, ein komplett schwarz angemalter Nackter mit roter Halbmaske. Zu Renaissance-Madrigalen schreitet Venedigs Gesellschaft einher, mit brasilianischer Jazz-Percussion bricht der exotische Feldherr Othello unter ihnen ein und lässt doch den wilden Rhythmus nur kurz, für Desdemona, unter seiner uniformierten Eleganz aufschimmern.

Neumeiers Musikauswahl ist bei all ihrer Gegensätzlichkeit sehr raffiniert - das Seelendrama der beiden Liebenden vollzieht sich zu Arvo Pärt und Alfred Schnittke, dessen erstes Concerto grosso dramaturgisch brillant eingesetzt wird, indem Neumeier ähnlich wie in „Endstation Sehnsucht“ auf Schnittkes musikalische Montagen und Zitate die Visionen seiner Figuren choreografiert. Die Soloviolinisten Wolf-Dieter Streicher und Luminitza Petre wurden mit den Musikern des Staatsorchesters auf einem Podest im Hintergrund der Bühne postiert, umweht von den weißen Stoffbahnen der minimalistischen Ausstattung, die der Choreograf selbst entworfen hat. Eine (nachgemachte) weiße Backsteinwand im Hintergrund deutet noch die Fabrik an, getanzt wird bis ganz nach vorne auf dem überbauten Orchestergraben, was den Tanz zwar nah ans Parkett rückt, den Zuschauern im dritten Rang aber einen Teil des Geschehens vorenthält.

Auch Shakespeares Eifersuchts-Drama entrückt der Hamburger Ballettchef in seine typische Neumeier-Welt der Spiegelungen, Doppelgänger und zweiten Ebenen. Obwohl er hier eher skizzenhaft, ja oft genug sprunghaft erzählt, kristallisiert sich das Drama immer wieder zu prägnanten Bildern - wenn zum Beispiel Primavera und der Wilde am Schluss Amok laufen, wenn Othello und Desdemona jeweils vor der toten Vision des anderen stehen. In den konzentrierten, oft musiklosen Solos von Jago, Othello oder sogar Emilia demonstriert der Choreograf seine subtile Charakterisierungskunst.

Manches aber wirkt sehr gewollt, in Neumeiers typische Floskeln mischen sich hier Tanztheater-Manierismen der Achtziger, etwa das irre Gelächter, das viel zu oft durchs Auditorium hallt. Natürlich schreien die Tänzer in ihrer jeweiligen Muttersprache, man zieht sich auf der Bühne um oder holt die Ausstattung von den Wänden, auch der Kostümmix übt sich in Brechtscher Verfremdung. Die Grenzüberschreitungen hin zum illusionslosen Theater wirken heute veraltet und passen kaum zu Neumeiers psychologischer Erzählweise, zu seiner Choreografie der nuancierten Neoklassik.

Angefangen bei den fünf Soldaten über die kleineren Rollen (Arman Zazyan als wilder Krieger, Myriam Simon als Hure Bianca) bis hin zu Alexander Jones als jungem, frischem Cassio wirft sich die Stuttgarter Kompanie mit der für sie typischen Intensität in dieses Stück. Im Mittelpunkt steht der großartige Jason Reilly als edler, äußerlich zurückhaltender Titelheld, hinter dessen Besonnenheit ein sehr verletzlicher Mensch erscheint. Wo Gamal Gouda den schwarzen Feldherrn als durch und durch noblen Menschen darstellte, da sitzt bei Reilly die Emotion dichter unter der Oberfläche, brodelt immer wieder hinter seiner Eleganz nach oben. Der Intrigant Jago hat zunächst kein leichtes Spiel mit ihm; letztlich kapituliert Othello vor der Fremdheit, die zwischen ihm und Desdemona steht, für Reilly ist sie ein so fataler Schock, dass er leicht zu Jagos Opfer wird. Katja Wünsche dagegen leidet ein wenig darunter, dass sich Neumeier zum Schluss immer mehr auf Othellos Charakter konzentriert. Desdemona ist eher passiv und nimmt hin, aber das lange nicht so melancholisch schön wie zum Beispiel in Verdis Oper; mag sein, dass Neumeier damals die fast durchscheinende Engelhaftigkeit seiner Muse Gigi Hyatt als Porträt genügte. Wünsche bleibt dagegen immer irdisch, immer eine Frau - wie schon als Sylphide fehlt ihr der ätherische Teil der Ballerina, sie bleibt ohne Geheimnis.

Eigentlich hat man sogar mehr Mitleid mit Emilia, die von Jago geradezu sadistisch misshandelt wird, um sich selbst seine Macht über andere Menschen zu demonstrieren. Sue Jin Kang leidet und schreit, sie duldet ihren Mann mit einer stolzen, gedemütigten Hassliebe - unglaublich, wie sich diese große Tanzaktrice immer noch weiter steigert. Ihr zynischer Gatte Jago erscheint mit dem jungenhaften Marijn Rademaker auf den ersten Blick untypisch besetzt. Aber auch der hübsche Holländer (er wäre die Idealbesetzung für Tadziu in Neumeiers „Tod in Venedig“ gewesen) wächst hier als Dämon mit dem Aussehen eines Engels über sich hinaus. Sein manipulatives, berechnendes Psychoduell mit Othello wird zum erschreckenden Höhepunkt des Abends. Dennoch: Jagos Gebrüll nervt. So deutlich ihn uns Neumeier als jemand zeigt, der in Rollen schlüpft, um andere zu manipulieren, so stark übertreibt der Choreograf gerade bei ihm das Aufgesetzt-Theatralische, die Exzesse. Und auch die letzte Szene des Dramas, Othellos Mord an seiner Frau, will zu den sanft oszillierenden Sphärenklängen Arvo Pärts kaum ein Ende finden. Liebe wie Tod finden in Zeitlupe statt, die Blicke voneinander abgewendet, eher zelebriert als wirklich gelebt. Warum nur fehlt diesem Stück die tiefe, direkte Emotion von Neumeiers großen Meisterwerken „Die Kameliendame“, „Nijinsky“, „Endstation Sehnsucht“?

Bei aller Hingabe der Tänzer (und die Stuttgarter Kompanie ertanzt sich hier wirklich einen Triumph): Der Tod dieser Liebenden berührt uns nur wenig. Vielleicht, weil uns John Neumeier von Anfang an gezeigt hat, wie falsch ihrer beider Vorstellungen voneinander waren. Vielleicht, weil er von Anfang an nicht an diese Liebe geglaubt hat.

Link: www.stuttgart-ballet.de

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