„Schwanensee“ auf höchstem Niveau
Yekaterina Kondaurova als Schwanenkönigin im Festspielhaus Baden-Baden
"Schwanensee" mit dem Mariinsky-Ballett
Wieviele hundert Mal müssen die Musiker des Mariinsky-Theaters Tschaikowskys berühmte Ballettpartitur gespielt haben – und wie schön, wie hingebungsvoll klingt jede einzelne Aufführung: mit dem breiten, vollen Streicherklang, mit einer wundervollen Solo-Harfe und mit großartiger Dynamik vor allem in den Corps-Szenen der Schwäne (in diesem Fall dirigiert von Michail Sinkewitsch). Anders als beim „Nussknacker“ oder bei „La Bayadère“, wo man jeweils eine traditionelle und eine neue (oder auch rekonstruierte) Fassung im Repertoire hat, tanzt das Mariinsky-Ballett bei „Schwanensee“ noch immer die Fassung von Konstantin Sergejew aus dem Jahr 1950 mit dem umstrittenen gutem Ausgang. Auf den ersten Blick mag die Fassung sehr zurückgenommen wirken, weiß sie außer der reinen Handlung keine psychologischen Erklärungsversuche oder Charakterstudien bietet. Angesichts der zahlreichen späteren Bearbeitungen erscheint sie aber geradezu als die Basis für all die Neudeutungen, als eine Art Original, nicht nur im Vergleich zu den völlig modernen „Schwanensee“-Versionen von Mats Ek bis Matthew Bourne, sondern auch im Vergleich mit den zahllosen nur leicht geänderten Fassungen, die zwar die weißen Akte bewahren, Motivation und Dramaturgie der Handlung aber verändern.
Ein Blick in die Geschichte also, wie so oft beim Mariinsky-Ballett, und ein überwältigendes Eintauchen in die Magie der weißen Akte, die hier in kaum vorstellbarer Präzision und Homogenität getanzt werden. Am meisten frappiert dabei die Genese des Corps de ballet aus dem Geist der Musik: die so leicht aussehende und nahezu perfekte Übereinstimmung der 24 plus 8 Schwäne, das zarte Wogen der Schwanenarme über den Köpfen scheint allein von der Musik inspiriert zu sein, nicht etwa durch Drill erarbeitet. Auch die höfischen Tänze im ersten Bild wurden an diesem Abend exquisit getanzt. Die zahlreichen kleinen Solorollen waren hervorragend besetzt: die Freunde des Prinzen im ersten Akt mit Irina Schelonkina, Irina Golub und der virtuosen Entrechats-Serie von Anton Korsakov, oder Andrej Iwanov als Hofnarr mit turboschnellen Drehungen. Unter den sorgfältig und stilvoll einstudierten Nationaltänzen im dritten Akt glänzte vor allem der spanische Tanz mit den atemberaubenden Rückwärts-Cambrés von Ketewan Papawa und Galina Rachmanowa oder den spanisch-manierierten Händen von Andrej Merkuriev und Islom Baimuradov.
Zum 6. Mal gastiert das Mariinsky-Ballett im Baden-Badener Festspielhaus, und fast jedes Mal war „Schwanensee“ dabei. Nach Aufführungen mit Uljana Lopatkina, Swetlana Sacharowa, Igor Zelensky oder Faruch Ruzimatow kann man nach dem diesjährigen „Schwanensee“ eine gewisse Enttäuschung aber kaum verhehlen. Daria Pavlenko, im Februar zur Ersten Solistin ernannt, hat technisch fraglos alles, was sie für die Rolle braucht. Die 32 Fouettés von Odile schafft sie locker, auch wenn sie nicht sehr sauber aussehen. Dennoch fehlt etwas, vor allem im Vergleich zu Lopatkina (die mit den wenigen Rollen, die sie tanzt, heute einfach außerhalb jeder Konkurrenz steht). Pavlenko zelebriert die Adagios der weißen Akte nicht genug, ihre Arme sind nicht lyrisch genug für die Schwanenbewegungen, letztendlich fehlt ihr auch die tiefe Traurigkeit Odettes, die Seele der Figur. Als schwarzer Schwan ist sie kaum raffiniert, sie spielt nicht mit ihrem Prinzen. Sie drückt das betrügerische Glänzen, die elegante Raffinesse der trügerischen Odile nicht durch ihre Bewegungen aus, sondern erinnert sich immer wieder zwischendurch daran und wirft Siegfried dann einen verruchten Blick zu. Was den wenig rührt – denn der große, dunkelhaarige Daniil Korsunzev ist zwar ein fescher Thronfolger, bleibt aber als künstlerische Persönlichkeit ein Totalausfall. Dieser Prinz Siegfried führt kein eigenes Leben, sondern dient einzig zum Herumtragen der Schwanenprinzessin. Der Usbeke aus Taschkent, der seine Ausbildung ganz deutlich nicht an der Waganowa-Schule erhielt, tanzt alles korrekt, aber durchweg mechanisch und schwerfällig. Seinen Bewegungen fehlt jede Phrasierung, jede Verve oder Geschmeidigkeit – all das, was den Künstler vom Arbeiter unterscheiden würde. Dass ein Tänzer kein geborener Schauspieler ist und wenig mimische Regung zeigt, kommt in jeder guten Kompanie vor; bei diesem hölzernen Danseur ohne Noblesse aber fragt man sich schon, wie er ohne jede Feinheit, ohne jeden Adel in das so sensibel um seinen hyperverfeinerten Stil bemühte Mariinsky-Ballett gelangen konnte – und dort auch noch bis zum Ersten Solisten aufgestiegen ist. Die Personaldecke bei den Kirov-Solisten ist dünn geworden – Igor Zelensky zieht es wie Diana Vishneva vor, durch Gastieren in Japan oder den USA etwas Geld zu verdienen, und nachdem Swetlana Sacharowa die Kompanie letztes Jahr gen Moskau verlassen hat, scheint es hinter Uljana Lopatkina kaum Alternativen auf höchstem Niveau zu geben. Umso mehr muss das Ensemble als Ganzes glänzen, das hat Ballettdirektor Machar Vaziev verstanden; dennoch wirkt seine Personalpolitik zunehmend unglücklich.
Besuchte Aufführung am 25.12.2004
Links: www.mariinsky.ru/en
Marc Haegemans sehr informative Seite über das Mariinsky und das Bolschoi-Ballett
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