Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Es ist ein herber Verlust: nach sechzehn Jahren beim Stuttgarter Ballett beendet die Erste Solistin Julia Krämer ihre Karriere – mit gerademal Anfang dreißig, also eigentlich viel zu jung zum Aufhören. Das kratzbürstige Käthchen in „Der Widerspenstigen Zähmung“ war die letzte große Cranko-Rolle, die ihr noch gefehlt hatte, für die war sie nach einer Baby-Pause noch einmal auf die Bühne zurückgekehrt. Jetzt will sie sich ausschließlich der Familie widmen, deshalb verabschiedete sie sich gestern Abend von ihrem Stuttgarter Publikum – hinausgetragen am Ende in einen hellen Lichtschein als Engelsfigur in Balanchines „Serenade“. Was für ein schöner, symbolischer Abschied.
Die gebürtige Stuttgarterin, die an der John-Cranko-Schule ausgebildet wurde, hat ihre gesamte Karriere beim Stuttgarter Ballett verbracht. Unter Marcia Haydée wurde sie Solistin, Reid Anderson beförderte sie als eine seiner ersten Amtshandlungen zur Ersten Solistin. Die blonde Tänzerin mit dem schönen, offenen Gesicht war eher eine Ballerina des Understatements, die nie mit ihrem Können kokettierte. Die feinen Nuancen und der Dienst an der Choreografie waren ihr stets wichtiger als der persönliche Ruhm oder der große Auftritt. Dabei hatte sie eine formidable klassische Technik – weil ihre Stärken eigentlich in der Moderne und in Crankos Handlungsballetten lagen, war man manchmal ganz baff, wie mühelos sie die Schwanensee-Fouettés oder andere technische Schwierigkeiten hinlegte. Ihrem eher sportlichen Körper nach war sie eigentlich weder das ideale Dornröschen noch die klassische Schwanenkönigin, und doch zählen gerade ihre Interpretationen dieser beiden Klassiker zu den Stuttgarter Ballett-Sternstunden der letzten Jahre.
Zusammen mit Robert Tewsley zog sie nicht die manchmal übliche Aneinanderreihung von Virtuosen-Nummern ab, sondern die beiden erzählten Märchen, bewegende Geschichten voll Liebe und Trauer – ganz im Sinne des Spiritius loci John Cranko. Niemals hatte man bei ihr das Gefühl, dass sie für sich selbst tanzt, niemals sah es selbstverliebt oder affektiert aus. Ähnlich wie bei Steffi Scherzer, der großen Berliner Primaballerina, fielen einem zu Julia Krämer die Attribute sicher, klar und stark ein. Ihr Geheimnis war die Aufrichtigkeit, ihre Wandelbarkeit, das unfehlbare Hineinfühlen in den jeweiligen Stil – ob es die coole Erotik von Forsythes „Herman Schmerman“ war, die schräge Ballerinen-Selbstironie von Christian Spucks Gala-Knüller „Le Grand Pas de deux“ oder die tiefe, bei ihr geradezu existenzielle Traurigkeit von John Neumeiers „Kameliendame“, eine Rolle, mit der sie vor drei Jahren noch einmal in eine neue Dimension vorstieß.
Selbst ihre Eleganz konnte Julia Krämer in verschiedenen Schattierungen tönen – in den Handlungsballetten war sie natürlich und von mädchenhafter Poesie, bei van Manen wirkte sie kühl und hatte einen melancholischen Unterton. Einen Pas de deux, egal ob modern oder klassisch, zelebrierte diese Ballerina nie als Kunstgebilde, in dem der Mann die Frau zu stützen hat, sondern bei ihr war es immer ein Miteinander-Tanzen – ihre strahlenden Augen, ihr natürliches Lächeln, ihre Haltung, alles war immer zum Partner hingeneigt.
Was Julia Krämer aber von allen anderen Stuttgarter Solistinnen unterschied, war ihr ganz einzigartiger Bewegungsstil, der vor allem den modernen Choreografen zugute kam, die auf klassischer Grundlage arbeiten – also Künstlern wie Hans van Manen, Jiri Kylián, Uwe Scholz oder dem Stuttgarter Hauschoreografen Christian Spuck, dem sie wahrscheinlich am meisten fehlen wird. Ihr Tanz war weich und fließend, er federte in den Akzenten ganz leicht, wie auf Luftkissen. So wie man einer großen Sängerin allein aufgrund der Schönheit ihres Stimmtimbres zuhört, so sah man Julia Krämer einfach aufgrund der reinen Poesie ihrer Bewegungen zu, die an ein Cello-Adagio erinnerten oder an ein Novalis-Gedicht. Beim Stuttgarter Ballett hinterlässt sie eine Lücke, die kaum zu schließen sein wird.
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