Wir haben's erfunden
„Made in Germany“, der neue Ballettabend beim Stuttgarter Ballett
Endlich mal ein Ballettabend ohne diese schicken, prätentiösen englischen Ballett-Titel – jetzt sind sie italienisch, lateinisch und japanisch, und wir verstehen sie immer noch nicht. Der neue „Tanzsichten“-Abend im Stuttgarter Opernhaus versammelt drei Uraufführungen von jeweils zwanzig bis dreißig Minuten Länge, abstrakte Stücke ohne jeden Kostümaufwand (getanzt wird fast ausschließlich in dunklen, schmucklosen Trikots), aber mit tollen Lichteffekten, mit zwei spannenden Auftragskompositionen und mit brillanten Tänzern.
„Orma“ bedeutet Spur oder Fährte, und mehr als eine solche gönnt uns der italienische Choreograf Mauro Bigonzetti auch nicht zum Inhalt seines Stücks. Seine energische, direkte Tanzsprache hat sich gegenüber „Kazimir‛s Colours“, dem ersten Stück fürs Stuttgarter Ballett, verändert – die Kraft scheint jetzt mehr von innen zu kommen, er legt nicht mehr so viel Wert auf athletische Körperlichkeit, sondern wählt die Bewegungen aufgrund ihrer Ausdruckskraft, manchmal geht es fast in Richtung MacMillan. Spannung entsteht zum Beispiel durch den Kontrast von extremer Langsamkeit zu aufgewühlter Musik, und unablässig erfindet Bigonzetti faszinierende Bilder von Stärke und Trauer: wenn Julia Krämer wie eine antike Lara Croft auf zwei Männerrücken steht, wenn Tänzer über die Bühne wandeln wie lautlose Engel im Totenreich, wenn sich Hände entsetzt vors Gesicht schlagen und dort festsetzen wie Kraken, wenn ein Gesicht vorsichtig, aber distanziert zwischen den Füßen gehalten wird statt zwischen den Händen. Bruno Morettis schön instrumentierte, erhabene Musik für großes Orchester changiert zwischen Strauss, Mahler und den melancholischen Stellen Puccinis, ohne sich diesen Komponisten aber je zu stark zu nähern. Getanzt wird fast durchweg in parallelen Aktionen, so wiederholt sich etwa ein Pas de deux weiter hinten auf der Bühne wie im Spiegel oder zwei, drei, vier Tänzer folgen demselben dramatischen Ritual. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten des Stuttgarter Balletts tanzen diese schwierigen Parallelaktionen durchweg so identisch, als wäre einer der Schatten des anderen; neben den verzweifelten Amazonen Bridget Breiner, Sue Jin Kang und Roberta Fernandes stehen Eric Gauthier und Ivan Gil Ortega mit einem intensiven Duo im Mittelpunkt, und Julia Krämer bricht einem mit ihrem tieftraurigen Solo fast das Herz. Mit wenigen Bewegungen, oft mit einem einzigen Bild evoziert Bigonzetti einen Gedanken oder eine Atmosphäre, und so bleibt bei all dem Kryptisch-Verrätselten dieses großartigen Stücks das Gefühl einer mystischen, großen Traurigkeit zurück. Wenn der beste Moment einer Uraufführung der ist, wo sich der gutaussehende Choreograf verbeugt, dann kann etwas mit dem Stück nicht stimmen.
Die Stimmung bei Douglas Lee ist die gleiche wie immer in den Balletten des ersten Solisten: tiefe Depression. Auch die Bewegungen der acht Tänzer sind die gleichen – die nach innen geknickten Gliedmaßen, die zur Erde geneigten Köpfe, dazu das freudlose Licht, die farblosen Farben. „Lachrymal“ wurde nach Benjamin Brittens „Lachrymae. Reflections on a Song of Dowland“ benannt. Aber so korrekt die Schritte auch zur Musik gesetzt sind – sie scheinen weder eine Emotion noch irgendeine Gestimmtheit der Musik aufzunehmen, stattdessen herrscht eine Art bienenfleißige Dauerbewegung, als hätte Lee Angst vor dem Innehalten, Angst vor einer erkennbaren Struktur. Das akademisch-gefühllose, langweilige Werk fällt deutlich hinter seine letzten Ballette zurück.
Wo Douglas Lee jeglichen Effekt und jede theatralische Wirkung verabscheut, da setzt Itzik Galili auf genau diese Eigenschaften. Für das Ensemble-Stück „Hikarizatto“ arbeitet der Israeli mit Wohnsitz in den Niederlanden auf einem Schachbrett aus Licht; die 25 beleuchteten Quadrate hat ihm der Licht-Designer Michael Brett eingerichtet. Das choreografische Idiom ist exakt das gleiche wie in Galilis letztjährigem Virtuosen-Pas-de-deux „Mono Lisa“: der extrem schnelle, athletische und klassisch grundierte Forsythe-Stil von vor zehn, fünfzehn Jahren. Das ist im Prinzip die Avantgarde von neulich, und Galili beherrscht die Sprache lange nicht so raffiniert wie Forsythe – aber die ungleich größere Leistung war wahrscheinlich die Logistik, das Anordnen der Tänzer auf den Lichtfeldern. Immer wieder setzt der Choreograf eine Art Maschinerie in Gang, einen nicht aufzuhaltenden Turbo-Mechanismus, nach dem sich die zehn Paare über die Lichtquadrate verteilen – in der Diagonale, in der Vertikale, von außen nach innen oder einfach dem Licht folgend, das unablässig von Quadrat zu Quadrat springt. So effektvoll wie das „überbevölkerte Licht“ (so die Übersetzung des Titels) auf der Bühne ist auch die Musik aus dem Graben, wo sich sechs Schlagwerker mit Hingabe durch die aufregenden Rhythmen des niederländischen Duos Percossa trommeln – wie der ganze musikalisch so abwechslungsreiche Abend werden sie souverän von der Engländerin Sian Edwards dirigiert. Im Grunde ist Galilis Stück Effekthascherei, aber sie ist brillant gemacht – und deutlich von der herausragenden Schnelligkeit der Stuttgarter Tänzer wie Eric Gauthier, Katja Wünsche, Jason Reilly, Alicia Amatriain oder Alexander Zaitsev inspiriert, die hier manchmal buchstäblich schneller sind als das Licht. In solchen modernen Ballettabenden dürften sie nur schwer ihresgleichen finden.
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