Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Wiederaufnahme einer überarbeiteten Fassung aus dem Jahr 2001
Jan Puschs „Projections on the move part I: Into the Blue“, eine Folge von drei Soli, gehört zu den seltenen Choreografien mit nicht abzusehendem Verfallsdatum. Er hebt das gewohnte Bild der Guckkastenbühne aus den Angeln. Beim ersten Solo (Detlev Alexander) gerät der Raum aus den Fugen, die Wand bewegt sich, die Bodenfläche dreht sich mit dem Tänzer, Linien schießen mit den Armbewegungen von links nach rechts und zurück, Streifen wandern von vorn nach hinten über die Bühne – und mittendrin der Tänzer, der schlussendlich in einem Meer von Lichtvibrationen verschwindet. Genau komponiert werden die Projektionen eingesetzt, nichts ist beliebig gestreut, alles dient der atemberaubenden Steigerung – auch die Musik von Beat Halberschmidt, eine exakte Mischung aus elektronischen Tönen, Geräuschen und manchmal elementar wuchtigen Rhythmen, sie stützt die allmähliche Zuspitzung. Vorgeschaltet ist eine Folge von Bewegungen, mit denen Detlev Alexander die Grenzen seines Körpers erkundet. Er dehnt seinen Körper in mehrere Richtungen gleichzeitig: Eine Schulter hebt sich bis zum Ohr, schiebt sich nach links vorn, die Hüfte klickt nach rechts, ein Arm bildet eine Gerade vor der Brustzone, das Spielbein streckt sich nach rechts hinten, der Rücken rundet sich: Wie später der Raum, verliert der Körper seine gewohnten Konturen. Eins entwickelt sich im weiteren Verlauf wie selbstverständlich aus dem anderen, nie unästhetisch oder gar verkrüppelt wirkend. Alexander verbindet scheinbar mühelos die ungewöhnlichsten Verwringungen, -drehungen, -zerrungen zu einem kontinuierlichen Fluss. Dabei entsteht weniger ein individuelles Charakterbild, ein Geschehen als vielmehr eine konzentrierte Atmosphäre, nahe der Meditation. Alexander bewältigt seinen schwierigen Part mit pantherartiger Geschmeidigkeit und traumhaft sicherer Technik. Selbst als sein Körper zur Projektionsfläche wird, entsteht kein Bruch. Über die Haut wandernde Bilder, teils scheinbar hervorgerufen durch Impulse mit den Händen, im Hintergrund immer sein Schatten, vom Lichtkranz der Projektion umgeben.
Im zweiten Solo serviert Wobine Bosch trocken hinter einem Schleier improvisiert scheinende Stränge, die immer wieder in ein Innehalten austrudeln, bei dem Bosch wie privat sinniert, nachdenkt –und dann von neuem ansetzt zu einem Versuch. Das plätschert so vor sich hin, scheint mir choreographisch der schwächste Teil des Abends zu sein. Mit einer Stimme aus dem Off beginnt Bosch einen Dialog (in Englisch) über den Körper, gleitet zugleich mit einem Lichtausschnitt am Schleier hin und her. Dann startet ein Film, auf den Schleier projiziert: Die Kamera taucht furios hinab in die menschlichen Innereien: Der Mund wird zur Höhle, Speiseröhre und Adern zu Tunnelsystemen, man fühlt sich mit hineingerissen.
Im dritten Solo, fast so intensiv wie das erste, driftet Paula Scherf (sehr intensiv) ab ins Surreale mit sinnlicher Note. Pferdeschwanz, Jungmädchenkleid mit weißen Rändern –Modell: Mutters braver Liebling. Sie spricht, haucht mit komisch-erotischem Unterton Daten, Jahreszahlen. Plötzlich löst sich aus ihr ein zweites Ich, das wie ein Schatten über die Bühne wandert und verschwindet. Weitere folgen. Einer kriecht über die hintere Wand, als sei er schwerelos. Nun wird die Bühne zunächst verdoppelt in einem zweiten, virtuellen Raum, dann erweitert sich die Perspektive zu einem dritten (Schein-) Raum, in beiden tummelt sich je ein Ebenbild der Solistin. Anfangs in synchronen Bewegungen mit der realen Scherf, dann in völlig eigenständigen. Ein unterschwelliger Humor schwingt mit, die Lust am Skurrilem, Groteskem. Mit einem Paukenschlag endet Puschs faszinierende Tour de force: Scherf setzt auf sich auf einen Stuhl vor einem Tisch –und kracht mit dem Ellbogen durch die Tischplatte. Blackout.
Wofür der Zusatz „Into the Blue“ im Titel steht, hat sich mir übrigens nicht erschlossen. Direkt ins Deutsch übersetzt: ,,Ins Blaue“, im übertragenen Sinne, über die Grenzen hinaus?? Die kongenialen Bilder, Projektionen und Formen nach der Konzeption von Pusch liefert „fettFilm“ (Torge Müller und Momme Hinrichs). Die Musik von Beat Halberschmidt passt wie ein Handschuh, inspiriert genau austariert zum Geschehen.
Anzuschauen auf Kampnagel noch am 27.2., 28.2., 29.2.
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