Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Vor zwei Wochen endete die letzte Staffel der ARD-Vorabendserie „Berlin, Berlin“ damit, dass die freche Wahlberlinerin Lolle im Zug nach Stuttgart sitzt, um dort einen Job als Comiczeichnerin anzunehmen. Genauer gesagt starrt sie die Notbremse an und wird sie zu Beginn der nächsten Staffel auch garantiert ziehen, nur um diesem schrecklichen Schicksal zu entgehen: „Kein Mensch geht gerne von Berlin nach Stuttgart - es sei denn, es ist ein totaler Idiot!“.
Mit diesem Satz waren wir Schwaben in unserem Kehrwoche-und-Weinschorle-Kaff mal wieder bedient - das Beste an Stuttgart soll ja ohnehin die Autobahn nach München sein. Aber schon kurz darauf nahte die Ehrenrettung - ausgerechnet in Gestalt des Berliner Kultursenators Thomas Flierl. Bei der Pressekonferenz des neuen Berliner Staatsballetts nämlich wurde ihm die Frage nach einer „benchmark“ für seine neue Truppe gestellt (für alle, die der Finanzsprache nicht mächtig sind: einem Maßstab), und Flierl benannte das Klassenziel mit „Stuttgart“. Mit etwas Verzögerung rückte Ballettchef Vladimir Malakhov die „benchmark“ hauptstadtgemäß zurecht: Nicht etwa am Stuttgarter Ballett, sondern am Mariinsky, an Paris, London oder dem ABT wolle man gemessen werden. Darf sich Berlin nun glücklich schätzen, weil sein Kultursenator die deutsche Ballettlandschaft so gut kennt - oder sollte Berlin darüber nachdenken, dass der Kultursenator die Lage deutlich realistischer peilt als sein Ballettchef?
Die Stadt, in die nur totale Idioten gehen, lehnt sich jedenfalls erst mal mit breitem Grinsen zurück. Und mit der traurigen Erinnerung an manche Berliner Balletterlebnisse - an eine Peter-Schaufuss-„Sylphide“ in der Deutschen Oper zum Beispiel, die trotz halb so hoher und dank Halfprice-Aktion schließlich auf ein Viertel der Stuttgarter Tickets reduzierter Eintrittspreise immer noch gähnend leer war, an einen kaum halbvollen Kylián-Abend, an die erschreckten Blicke der Berliner, wenn sich der süddeutsche Tourist neben ihnen nicht mehr zurückhalten konnte und nach einer besonders tollen Variation in Bravo-Rufe ausbrach. Auf die harmlose Frage, ob es denn in Berlin auch Ballettzuschauer gäbe, die sich die anderen großen Kompanien in Deutschland anschauen, erhielt man vom Berliner Bekannten die sarkastische Antwort „Ja - mich!“.
Drei Wochen vor der Abschiedsvorstellung des langjährigen Berliner Ballettstars Oliver Matz, immerhin eines der raren deutschen Tänzer von Weltniveau, sind noch immer locker Karten in allen Preisgruppen zu haben - der Stuttgarter kampiert für solche Abschiedsvorstellungen seiner Lieblinge drei Nächte lang im Schlafsack vor der Opernkasse. Und schaut neidvoll auf das angekündigte „Tanzticket“ des neuen Staatsballetts, bei dem man für 30 Euro ein Jahr lang 30 Prozent Ermäßigung auf alle Ballettkarten bekommt - ihn lockt kein Mensch mit Rabattaktionen, er kennt die 30 eher als die Zahl der Minuten, nach der die Ballettkarten ausverkauft sind. Was Berlin zu seinem neuen Ballett und seinem auf dem Papier so gut klingenden Saisonprogramm am dringendsten fehlt, ist das Publikum. Nicht die Touristen, die dafür sorgen, dass Klassiker wie „La Bayadère“ oder „Cinderella“ ganz gut laufen, sondern ein regelmäßiges Stammpublikum, das auch noch die fünfte oder sechste Vorstellung eines dreiteiligen Abends sehen will, das die Qualität der Berliner Tänzer wirklich zu schätzen weiß, und das laut schreit, wenn man eine seiner Kompanien schließen will. Vielleicht auch ein Tanzpublikum, das keine Berührungsängste vor der „etablierten“ Tanzkunst kennt und hin und wieder von der freien Szene herüberwechselt. Ein kritisches, treues, großes Ballettpublikum, wie es das Mariinsky, das Pariser Opernballett, das Royal Ballet oder das ABT haben. Und Stuttgart. Keine Frage: Wenn Lolle Ballettfan wäre, hieße die Serie anders...
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