Reflex einer Welt, die aus den Fugen geraten ist

Baden-Baden eröffnet seine Ballett-Stagione mit John Neumeiers „Préludes CV"

oe
Baden-Baden, 22/10/2004

Wahrlich ein Red-Letter-Day in der Chronik der Bäderstadt an der Oos, dieser 22. Oktober 2004! Am Vormittag der Festakt zur Eröffnung des Museums-Neubaus für die Sammlung von Frieder Burda, der Baden-Baden in die vorderste Reihe der für die moderne Kunst aufgeschlossenen Städte im deutschen Südwesten katapultiert. Und am Abend dann im Festspielhaus die Eröffnung der inzwischen schon zu Tradition gewordenen Ballett-Stagione mit den Hamburgern – Auftakt von immerhin sieben Vorstellungen mit drei Programmen. Wo gibt es das sonst in der Bundesrepublik, diese kontinuierliche jährliche Kooperation mit einer residenten Ballettkompanie über zwei Wochen hinweg? Ein Projekt, das leider von den Medien nicht entsprechend gewürdigt wird – so glänzten auch an diesem Abend wieder die beiden Gazetten aus der nahen schwäbischen Ballett-Wunderstadt durch Abwesenheit.

Dabei hatte sich John Neumeier für diese Gelegenheit etwas Besonderes einfallen lassen: die Widmung seiner neuesten Kreation an die Stadt, die sich mit Recht ihrer traditionellen Verbindung mit Hamburg rühmt – als süddeutsche Residenz von Johannes Brahms. Also choreografierte er Baden-Baden zu Ehren die beiden „Liebeslieder“-Zyklen von Brahms – und damit gleichzeitig eine geheime Huldigung an den großen Balanchine zu dessen hundertstem Jubiläumsjahr. Und so stoben die wunderbaren Hamburger Tänzer im Walzerrausch über die Bühne des Baden-Badener Festspielhauses. Und wenn sie dort auch niemand außer mir gesehen hat, nicht einmal Neumeier selbst, so lag das einzig daran, dass das Ganze ein Wunschtraum von oe‘s Gnaden war!

In Wirklichkeit tanzten sie Neumeiers „Préludes CV“, sein choreografisches Skizzenbuch zu den zweimal 24 Präludien für Cello und Violine mit Klavier der russischen Komponistin Lera Auerbach aus dem Sommer vorigen Jahres. Und so gab es denn doch auch hier eine geheime Konnexion zwischen Russland und Baden-Baden als bevorzugte westeuropäische Bäder-Metropole der zaristischen Intelligenzija des 19. Jahrhunderts. Zwei Tage nach der Besiegelung des Hamburger Ballett-Beschäftigungsbündnisses für die nächsten fünf Jahre – mit Arbeitsplatzgarantie, aufgestockten Gagen und erweiterten Vollmachen für den geschäftsführenden Intendanten – und das in Zeiten, da allenthalben die Zeichen auf Minimierung der bestehenden Verhältnisse stehen. Wenn das kein Triumph des Balletts ist!  Aber auch dieses hoch erfreuliche Ereignis wurde in den Medien eher unter Wert verkauft! Mehr noch als einen großen Choreografen scheint das Ballett in unseren Tagen einen genialen Marketing Direktor zu benötigen!

Ganz sicher gehören die „Préludes CV“ zu Neumeiers sperrigsten und widerborstigsten Arbeiten. Zu Recht warnt der Choreograf das Publikum: „Versuchen Sie nicht, das Ballett zu verstehen. Es hat keine Geschichte (die ich Ihnen erzählen könnte) – außer der Handlung, die Sie eventuell beim Hören der Musik und beim gleichzeitigen Betrachten dieser Bewegungssituationen in sich selber spüren.“ War da einmal eine „Kameliendame“, ein „Schwanensee“, ein „Nijinsky“? Und doch tanzen die hin- und mitreißenden Hamburger diese gut zweieinhalbstündige Skizzenfolge so eloquent, so erfüllt, so aufgeladen mit persönlichen Emotionen, so leidenschaftlich, dass sie zum Spiegel ausgesprochen heutiger Befindlichkeiten wird – einer Welt, so voller Konfliktsituationen und Widersprüche, dass man das CV auch als Cum Vanitate lesen kann. Oder in Anspielung an die zweimal 24 Präludien und Fugen von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ als das tänzerische Kompendium einer Welt, die gründlich aus den Fugen geraten ist. (Ein erstes kj erschien über die Hamburger Uraufführung am 22. Juni 2003 – hier geht es zur Uraufführungskritik)

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