Marco Goeckes Vertrag beendet
Die Staatsoper Hannover trennt sich mit sofortiger Wirkung von ihrem Ballettdirektor
„Glotzt nicht so romantisch“ könnte als Motto der Schwanensee-Fassung von Stephan Thoss gelten. Alles Märchenhafte hat der Hannoversche Ballettchef der Vorlage gründlich ausgetrieben. Er entwirft die Story äußerlich neu – und bleibt dennoch der Geschichte von Liebe und Enttäuschung verhaftet, nutzt nicht zuletzt Tschaikowskis prächtig funkelnde Musik. Rotbart ist bei Thoss eine Art Rocker-Playboy, der Odette bei einer Party aufreißt, sie dann fallen lässt. Sie zieht sich verletzt zurück in eine Schwanenwelt, eine Schutzzone. Dort begegnet ihr Siegfried, der um sie wirbt. Mit Erfolg, bis er auf einer zweiten Party von Odile, einer Begleiterin Rotbarts, verführt wird. Odette verlässt Siegfried und den unvermittelt von Reue zerknirschten Rotbart, der sie nun doch halten will.
Statt Königshof also Party im kubistischen Ambiente (Bühnenbild und Kostüme: Tina Kitzing). Im Sexy-Look die Frauen: bauchfrei, kurze Röcke, nackte Oberschenkel; eher grau kommen die Männer daher. Die sich entwickelnde „Orgie“ ist nicht erotisch, sondern meist nur plakativ eindeutig mit Hüftenrollen und –stoßen, Drübersteigen und Drunterliegen. In Thoss’ eigentümlichem Stil der atemlos explodierenden Sequenzen mit herausschleudernden Armen, hektischen Sprüngen, stoßenden Beinen, dauerndem Auf und Ab vollführen etliche Paare nacheinander eine Art Sexgymnastik, oft gewürzt mit konvulsivischen Zuckungen. Dazwischen ein ausgesprochen fantasievolles Pas de Deux von Odette (Mia Johansson) und Rotbart (Uwe Fischer) mit vielen zärtlichen Momenten. Hier schafft es Thoss, den Fluss der Bewegungen aus Hebungen bruchlos fortzusetzen in Abläufe am Boden oder über die Fläche. Übergang zum ersten Schwanenakt: Die Bühne ist leer geräumt, riesige Federn bilden ein Dach, eine Plastik, vormals Sitzgelegenheit für Odette, mutiert durch Drehung zum stilisierten Schwan. Odette zieht sich ein plustriges Federtutu an, dessen vorderen Teil sie mit der Hand vor den bloßen Busen hält: wohl eine Gebärde der Verletzlichkeit. Gleiches tun die Dutzenden von männlichen und weiblichen Schwänen, die aus den Seitengassen hervorbrechen. Was sie dann vollführen, gleicht einem aufgescheuchten Hühnerhaufen. Thoss gießt ein Füllhorn an Gruppenbewegungen, -verschiebungen mit viel Hin- und Hergerenne aus; wohin die Hektik führen soll außer zu unfreiwilliger Komik, hat sich mir nicht erschlossen. Siegfried (Zoran Markovic) erscheint, tanzt mit Odette, scheint sich mit ihr zu vereinen.
Kurz der Rest: Zweites Partybild: Odile (Masa Kolar) versprüht Sex à la Nachtbar, Siegfried fällt drauf rein, Odette taucht auf, Entsetzen – im folgenden, zweiten Schwanenbild, trennt sie sich von Siegfried und Rotbart, schreitet nach hinten ins Dunkel. Schon längst ist Thoss nach dem ersten, noch vital erscheinenden Akt trotz allen Gewusels die Puste ausgegangen. Das choreographische Geschehen dreht in ununterbrochener Betriebsamkeit leer, vermag nur noch wenige Momente der Trauer, Scheu von Odette zu konturieren. Dreiviertel der Produktion langweilen, hängen durch. Thoss, im jetzigen Stand seines Könnens, scheint mir der Mann für Kurzballette von maximal dreißig Minuten zu sein. Die Tänzer/innen können den verkorksten Abend nicht retten: Mia Johansson wächst nicht zur beherrschenden Figur, verkörpert eher den Liebeskummer eines Teenagers als die Liebestragödie einer Frau. Technisch brillanter kommt Uwe Fischer als arroganter Schnösel Rotbart daher, dämonisches Charisma geht ihm ab. Zoran Markovic, von Thoss kaum mit lohnenden Bewegungen bedacht, spielt als Siegfried den Langweiler vom Dienst. Präsent bis in die Fingerspitzen schlängelt sich Masa Kolar als Odile über die Bühne: vertane Mühe. Zwar werden im Programmheft Partiturnummern und Zuordnungen aufgelistet, aber nicht die Personen genannt, die die Einlagen tanzen. So kann ich nur raten, dass es wahrscheinlich Vanessa Curado war, die im 1. Akt ein brillantes Solo mit hohen Sprüngen und kraftvoller Attacke vorführte. Das Ensemble agierte durchwegs mit vollem Einsatz, als sei es an einen Riesenakku angeschlossen.
Bleibt die Musik, deren Nummernfolge Thoss umstellte. Das Orchester widmete sich unter der aufmerksamen Leitung von Markus Frank mit Sorgfalt der anspruchsvollen Partitur. Die Feinheiten der Instrumentierung wurden klar herausgeschält, die Höhepunkte prunkten in feudaler Pracht, tänzerische Tempi angeschlagen – und fast nichts passte zu dem Schickimicki-Geschehen auf der Bühne. Ehrlicherweise hätte sich Thoss eine Rock-, Pop-, Techno-, Rapmusik komponieren, zusammenstellen oder zumindest Bearbeitungen ins Tschaikowski-Original einbauen lassen sollen. Von Mats Eks lustvoll anarchistischer Zerstörung von klassischen Klischees, wie etwa in seinem „Dornröschen“ choreographisch genial demonstriert, oder John Neumeiers intelligenter und inspirierter Fassung „Illusionen wie Schwanensee“ trennen Stephan Thoss jedenfalls (noch?) Welten.
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