Stephan Thoss: „Zwischen Mitternacht und Morgen - Schwanensee"

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Hannover, 01/02/2004

Ja, das waren noch Zeiten, als wir zur deutschen Erstaufführung von Tschaikowskys originaler Nummernfolge (also mit dem „Schwarzen Schwan“-Pas-de-deux im ersten Akt) nach Hannover fuhren. Fast vierzig Jahre ist das her. Die hatte Richard Adama besorgt – in Anlehnung an Iwanow/Petipa, versteht sich. Ob sich denn wohl heute noch jemand daran erinnert? Niemand, der heute zu „Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee“ nach Hannover fährt, wird einen klassischen „Schwanensee“ à la Iwanow und Petipa erwarten. Auf dem Besetzungszettel kommen ihre Namen nicht vor – dafür heißt es klipp und klar: Choreografie Stephan Thoss.

Vier Solisten sind übrig geblieben – aber eigentlich sind es nur zwei: Mia Johansson als Odette und Uwe Fischer als Rotbart – Siegfried. Zoran Markovic ist der Mann, der aus dem Schatten kommt (aber kaum aus seinem Schatten heraustritt). Odile – Masa Kolar – kann sich nur im dritten Akt profilieren (und tut es mit Bravour). Die Ausführenden der kleineren Soli, inklusive der vier Kleinen Schwäne – rekrutieren sich aus der Anonymität des Corps de ballet. Das große Folklore-Ensemble des Festaktes ist bis auf den Russentanz gestrichen.

Nichts gegen die neue Dramaturgie von Anja von Witzler! Von ihr profitieren Rotbart als eiskalter Machtmensch und Lady-Killer und Odette, die, vom Rotbart-Virus infiziert, sich nie ganz von ihm befreien kann, sich in eine andere Existenz zurückzieht (sozusagen in den Orden der weiblichen und männlichen Schwäne, mit Initiationsritual, wobei sie einen weißen Strich auf den Rücken gepinselt kriegt). Aber doch kann sie ihre Zeit an der Seite Rotbarts als sein gesellschaftliches Aushängeschild nicht vergessen. Am Ende gibt es drei Verlierer: Rotbart, Odette und den freilich kaum wirklich präsenten Siegfried.

Ich stelle mir vor: Rotbart ist der ältere (nicht reifer) gewordene Onegin, bindungsunfähig und deshalb Ersatz bei vielen Frauen suchend – so interpretiert ihn jedenfalls Uwe Fischer, ein eiskalter Zyniker, dominant und sprungstark. Johansson wäre dann als Odette eine andere Tatjana, die sich mittels Psychochirurgie aus Frustration in einen Schwan verwandelt – die Frau mit den zwei Seelen in der Brust, und so leidet Johansson still vor sich hin, bis sie sich am Schluss aufrafft und Rotbart seinen Sexismus gründlich heimzahlt (eine klassische Odette würde ich ihr allerdings nicht zutrauen). Nicht schlecht! Ganz hervorragend das Staatsorchester unter Markus Frank – hochsensibel und flexibel mit konzertreifen Sololeistungen des Violinisten, des Oboisten und der sensationellen Harfenistin.

Bühnenbild und Kostüme stammen von Tina Kitzing, weite, farbintensive Räume mit einer eleganten, vielseitig verwendbaren Schwanen-Skulptur. Unmöglich, hässlich, ja vulgär die bauchfreien Schlabber-Klamottenkostüme – sowohl für die Disko-Teenies der Szenen bei Rotbart, aber auch die pummeligen Schwanen-Tutus der Frauen und Männer. Eine Katastrophe – besonders in Zusammenhang mit Thoss‘ Choreografie, die so obstinat Hintern-fixiert ist. Nie so viele trikotierte Hintern gesehen – auch unter den Schwanen-Tutus! Die Choreografie von Thoss – natürlich kein Spitzenschuh weit und breit. Viel Disko-Gezappel, Ruckzuck-Reißen und Stoßen, bloß nichts Klassisches und kaum je eine ungebrochene, ruhige Linie.

Kein Fluss, keine Eleganz, keine Harmonie – lauter mechanistische Puppen an Drähten des Choreografie-Magiers Thoss. Kann man natürlich machen – „Schwanensee“ als cooler Disko-Cartoon! Aber zu dieser Musik, die so rund und fließend und harmonisch und – na ja, so anrührend und schön und seelenbalsamisch ist? Nichts für meinen Geschmack jedenfalls – dafür bin ich zu alt! Mir taten die Tänzer leid, denen jedoch kein Mangel an emphatischem Engagement vorzuwerfen ist. Ob sie wohl, als sie mit ihrer Ausbildung begonnen haben, davon träumten, einmal eine solche Choreografie tanzen zu müssen?

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