„Schwanensee“ von Rudolf Nurejew, Tanz: Damenensemble

Schillerndes Monster

Das Wiener Staatsballett zeigt wieder Rudolf Nurejews „Schwanensee“

Jakob Feyferlik musste sein Wien-Gastspiel absagen, der Ex-Stuttgarter Timoor Afshar kam zum Zug und debütierte als Siegfried an der Seite von Olga Esina.

Wien, 23/06/2024

Zur 252. Vorstellung der an sich legendären Wiener „Schwanensee“-Produktion von Rudolf Nurejew (1964) gab es ein unerwartetes Debüt und ein schönes Comeback. Jakob Feyferlik, von Manuel Legris 2019 nach einer Aufführung eben jenes „Schwanensees“ zum Ersten Solotänzer befördert, gehört dem aktuellen Wiener Staatsballett nicht an. Als Siegfried war er nun von den Bayern für zwei Vorstellungen ausgeliehen, musste aber wegen einer Verletzung absagen. In den Genuss eines verfrühten Debüts, das wohl erst für die Herbst-Serie vorgesehen war, kam dadurch der aus Stuttgart seit Herbst 2023 nach Wien engagierte Timoor Afshar. Der bisher vor allem in John Neumeiers „Kameliendame“ als Armand eingesetzte Solist schlug sich über weite Strecken durchaus wacker in der herausfordernden vieraktigen Fassung, in deren Zentrum vor bald 60 Jahren Rudolf Nurejew das Schicksal des Prinzen gerückt hatte. Siegfried ist, in all seiner Jugend, sehnsüchtig nach Erfahrung, leichtgläubig und verführbar, am Ende ein Getäuschter und Verzweifelter, der für den falschen Schwur mit dem Tod bestraft wird.

Etliche große Tänzer haben sich der Nurejew‘schen Herausforderung gestellt, die schauspielerischen Einsatz und jene gnadenlose technische Brillanz verlangt, die der Choreograf Nurejew, der sich wohl auf Traditionslinien bewegt, diese aber vor allem im 1. und 4. Akt anreicherte und erneuerte, dem Tänzer Nurejew (damals mit Margot Fonteyn) verordnete. Timoor Afshar kommt der Aufgabe zunächst einmal mit sympathischem Auftreten nach. Er versteht es, sich immer wieder plastisch in den Raum zu setzen, lässt sich wenig Unsicherheit anmerken und exekutiert vor allem den Schritte-Kanon, unterstützt von Paul Connelly am Pult, in scheinbarer Ruhe. Dass das natürlich noch wenig mit erzählerischer Darstellung oder gar Phrasierung geschweige denn Theatralik zu tun hat, mag nicht verwundern. Mit dem in den USA gebürtigen Debütanten auf der Bühne eine formvollendete Ballerina russischer Herkunft: Olga Esina, von Ex-Operndirektor Dominique Meyer vor einigen Jahren sinngemäß zur Apologetin der Klassik schlechthin erkoren, zeigt eine Modell-Odette von kühler, verschlossener Noblesse mit langer Linie, Feinsinnigkeit für die verlangte Pantomime und eine blitzende Odile im 3. Akt. Momente der Berührtheit in Richtung Siegfried hat diese aus der Verzauberung durch Rotbart (Andrey Teterin) nicht herauslösbare Odette nicht eingebaut, das bräuchte dann doch einen Prinzen mit Kaliber. An diesem Abend aber bleibt die Frauengestalt nach der Siegfried greifen will, in weiter Distanz.

Ein wenig verloren in der Wirkung

Schwanensee-Zeit verheißt in Wien stets das Umgehen mit Nurejews Auffassung von Klassik, die damals bereits stark von westlichen Erfahrungen durchzogen war (Crankos „Schwanensee“, Erik Bruhns Berater-Funktion u.a.): schnörkellos aber raffiniert, klar, aber stupend, nicht zu vergessen die große Geschichte unerfüllter Liebe, die hier „an sich“ erzählt wird. Seit der neuen Ausstattung von Luisa Spinatelli, die Manuel Legris anordnete (und dabei an technisch gut machbare Gastspiele dachte) und manch veränderten szenischen Momenten, wirkt diese Wiener Fassung ein wenig verloren. Die Choreografie für die Gefährtinnen des Prinzen (Natalya Butchko, Anita Manolova) im Pas de cinq im 1. Akt etwa ist nun von langen Kostümen verdeckt. Das Bühnenbild suggeriert ein seidig-dünnes Bilderbuch-Märchen während Nurejew in den 1960er Jahren auf existenzielle Spiellust des schwer einschätzbaren dynastischen Sprösslings in einer vergleichsweise moderneren Ausstattung setzte. In der Ära Renato Zanella punktete Jordi Roig mit Schneiderkunst in handfestem Ambiente.

Bei all der Anerkennung, die man dem Einstudierenden-Team für dieses schillernde Monster unter den tradierten Handlungsballetten zollen muss, stellt sich jüngst die Frage nach adäquater Regie, die einen Spannungsbogen einbaut in das derzeit harmlos verlaufende Geschehen. Auch dem großen Schwäne-Corps de ballet, das nun wieder laut tönt, der Harlekin-Boden scheint verschwunden, würde Ausdruck, nicht nur Form, gutstehen.

 

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