Zwei neue DVDs: „Paquita“ und „An Evening with the Alvin Ailey American Dance Theatre“

oe
Stuttgart, 19/02/2004

Zwei neue DVDs, wie man sie sich gegensätzlicher kaum vorstellen kann: „Paquita“ in der von Pierre Lacotte produzierten Fassung von 2001 für die Pariser Opéra (Arthaus Musik TDK DV-BLPAQ, 120') und „An Evening with the Alvin Ailey Dance Theatre“ mit den beiden Ailey-Stücken „Revelations“ und „Cry“ plus Judith Jamisons „Divining“ und Talley Beattys „The Stack-Up“, produziert 1986 vom TV-erfahrenen Thomas Grimm für Danmarks Radio Musikadelingen (Arthaus Musik, DVD 100452, 108').

„Paquita“ also nicht nur in den überlieferten Versionen des „Pas de trois“ und des „Grand Pas“, sondern als abendfüllender Zweiakter von Lacotte, basierend auf der Pariser Uraufführung von 1846 (Choreografie von Joseph Mazilier, Musik von Edouard-Marie Deldevez) und der St. Petersburger Einstudierung von 1871 (von Marius Petipa, mit zusätzlicher Musik von Ludwig Minkus, bearbeitet von David Coleman, der auch das Orchester der Pariser Opéra dirigiert) – getanzt von Les Étoiles, les Premiers Danseurs und le Corps de ballet (samt Kindern) der Pariser Opéra. Das ist ein charmantes Gusto-Stückerl aus der Ballett-Bonbonniere des 19. Jahrhunderts, eine Räuberpistole als Tanzoperette, mit viel pantomimischer Umstandskrämerei und spanischem Kolorit im ersten Akt (Paquita ist von Zigeunern geraubt worden und bei ihnen aufgewachsen, verliebt sich per Zufall in einen jungen Adligen, den sie aus tödlicher Gefahr rettet) und großem Ball im aristokratischen Milieu des Empire im zweiten (bei dem sich herausstellt, dass sie adliger Herkunft ist, so dass ihrer Heirat mit dem Comte Lucien nichts mehr im Wege steht).

Es spielt zur Zeit der napoleonischen Besatzung in Spanien, was Luisa Spinatelli den Vorwand für ebenso prächtige wie elegant zerschlissene und dann herrlich aufgeputzte Kostüme à la Goya liefert. Lacotte hat dazu eine Choreografie arrangiert, die man schlecht als Rekonstruktion bezeichnen kann, die aber stilsicher auf zeitgenössische Vorlagen aus Paris und St. Petersburg zurückgreift und jede Menge virtuoser Möglichkeiten bietet (wobei ich persönlich auf die ausufernden Kinderensembles gut verzichten könnte). Sie werden von den Solisten – in den beiden Hauptrollen: Agnès Letestu und der brillante José Martinez sowie als Oberhaupt der Zigeuner Karl Paquette – funkenstiebend getanzt, und da auch die zahlreichen kleineren Soli und Ensembles hochkarätig besetzt sind und die großen Corps-Szenen mit Elan und Esprit über die Bühne wirbeln, bereitet das ganze Unternehmen einen geradezu fußkitzelnden Spaß. Wie gesagt: eine hübsche Ballettoperette – nichts für die Verächter des klassischen Balletts, den Freunden lächelnden und leichtfüßigen Charmes indessen mit Nachdruck empfohlen!

Der Ailey-Repertoire-Querschnitt ist exzellent kommentiert vom Meister selbst (allerdings behauptet das Textheft fälschlich, der Besuch „einer Vorstellung von Diaghilews legendären Ballets Russes“ hätte seine Ballettbegeisterung ausgelöst – die existierten bei Aileys Geburt 1931 schon zwei Jahre nicht mehr, der Textautor verwechselt offenbar die Kompanien, denn gemeint ist Serge Denhams Ballet Russe de Monte Carlo. Auf dem Programm: Talley Beattys fulminant getanztes Stück „The Stack Up“ alias „Drugs and the City“ über Drogen und Gewalt in Harlem (1982) und von Jamison (Aileys langjähriger Starsolistin und seine Nachfolgerin als Leiterin des Alvin Ailey American Dance Theatre) „Divining“, ihre erste Choreographie (1984) über die schwarz-afrikanischen Wurzeln ihrer Herkunft. Von Ailey selbst ist sein vielleicht berühmtestes Solo „Cry“ (1972) vertreten, kreiert für Jamison und hier nun getanzt mit priesterlicher Würde von Deborah Manning, „gewidmet den schwarzen Frauen überall und besonders unseren Müttern“, und seine unwiderstehliche Spiritual- und Gospel-Suite „Revelations“ (1960), das Markenzeichen seiner Kompanie und nach wie vor eine der berückendsten ästhetischen Erfahrungen, die das Tanztheater zu bieten hat.

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