Aufstieg in die Spitzenregion des musikalischen Himalaya

John Neumeier choreografiert Gustav Mahlers Siebte Sinfonie

oe
Hamburg, 05/12/2005

In seiner jahre-, ja jahrzehntelangen choreografischen Erkundung des Mahlerschen Zentralmassivs hat sich John Neumeier an den schwierigsten, sperrigsten und widersprüchlichen Gipfel gewagt: Mahlers Siebte Sinfonie aus den Jahren 1903/05. Was hier alles musikalisch zusammen kommt, Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukunftsbefürchtetes, k.u.k.-Nostalgie im Angesicht der heraufziehenden Katastrophe, hat bisher kein Mahler-Apologet, auch kein Theodor W. Adorno, plausibel entschlüsseln können. Dafür findet hier allzu viel Disparates statt, bis hin zum lärmenden „Meistersinger“-Finale. Unter der musikalischen Leitung von Klauspeter Seibel erwiesen sich die Hamburger Philharmoniker als gewissenhafte Treuhänder ihres einstigen Kapellmeisters G.M.

Auch Neumeier gelingt keine schlüssige Interpretation. „Lieder der Nacht“ nennt er seinen Zweiteiler, dem er überflüssigerweise acht Chopin-„Nocturnes“, gespielt auf der Bühne von Lauma Skride, vorangestellt hat, Skizzen für zehn seiner besten Tänzer, die meisten à deux, sozusagen Trockenübungen in nächtlichen Stimmungsbildern, bei denen ständig Tassen hin und her gereicht werden. Die sich aber nur ausnahmsweise, etwa im Verliebtheits-Pas-de-deux von Hélène Bouchet und Thiago Bordin oder im Pas de trois der drei Männer mit Jiří und Otto Bubeníček samt Ivan Urban zu Charakterstudien verdichten und nie die festen Konturen etwa von Robbins‘ „Dances at a Gathering“ gewinnen.

Repräsentanten der Hamburger Neumeier-Opposition fragen verständlicherweise: Also wenn Neumeier schon nicht mehr alle Tassen im Schrank hat – muss er sie dann auch noch auf der Bühne ausstellen? Ein fades Ballett zum Vergessen! Umso imposanter nach der Pause der Ansturm auf den Gipfel, an dem die ganze Kompanie beteiligt ist. Mit drei Schlüsselfiguren, über die man einen ganzen Roman schreiben könnte, ohne ihren Charakter vollends entschlüsseln zu können, es sei denn, man hieße Robert Musil (oder nicht doch Ödön von Horvath?) Doch wie sind dann die Rokoko-Galanterien (mit den Tassen, versteht sich) unterzubringen? Etwa als Sahnehäubchen von Hofmannsthal? Die Schlüsselfiguren, das sind hier Joelle Boulogne (immer mit einem Wickelpaket herumlaufend – auch so eine Neumeiersche Privatmythologie), der sehr kämpferisch sich ins Zeug legende Alexandre Riabko und vor allem Lloyd Riggins, als ein tagträumender Poet aus der Schubert-Gilde.

Sie stecken voller choreografischer (und natürlich musikalischer) Zitate: Neumeier als choreografischer Geistesbruder von Charles Ives – bis hin zum ordinären Festwiesen-Finale (Beckmessers Traum? Oder gar das vorweggenommene Freudenfest auf dem Hamburger Dom anlässlich der Besiegelung des Umzugs der Deutschen Bahn von der Spree an die Elbe?). Die Hamburger tanzen das wie die Propheten einer St. Michaels Bruder- und Schwesternschaft: Nun gehet hin in alle Welt und verkündet das Tanz-Evangelium des St. John von der Alster. Überwältigend – sowohl musikalisch als auch choreografisch! Und so voller Assoziationen, dass hier unbedingt noch ein oe-Spezial in den nächsten Tagen angehängt werden muss.

 

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