100 Jahre ikonisches Markenzeichen
Friedrichstadt-Palast feiert die längste Kickline der Welt
Die neue Revue im Friedrichstadtpalast huldigt einem Popstar des Rokoko
Sein Name ist über die Jahrhunderte zum Synonym des nimmersatten genusssüchtigen Lebemanns geworden: Casanova. Literatur und Film haben sich genüsslich der illustren Person angenommen. Nun folgt die Revue nach. Im Friedrichstadtpalast erlebte nach dreijähriger Vorbereitung ihre Premiere. Jürgen Nass und Roland Welke beziehen sich in ihrer Textvorlage auf die Memoiren des Liebeskünstlers, die gut ein Dutzend Bände füllen. Wo ihr Wahrheitsgehalt nicht mehr prüfbar ist, schlägt dem fantasiereich hinzuerfundenen Detail die Stunde. In zwei Teilen zu insgesamt 20 Bildern lassen die Autoren ihren Giacomo rastlos durch ein pralles Leben eilen, das neben Höhen auch die tiefe Einsamkeit des Alters kennt. Dass bei aller Besinnlichkeit dem Auge gegeben wird, was es von einem Thema des Barock an opulenter Sinnlichkeit erwartet, dafür hat ein hochkarätiges Produktionsteam um Regisseur Jürgen Nass gesorgt.
Angela, eine junge Frau von heute auf der Fahrt nach Venedig, liest Casanova und macht sich ein Bild von dem Verführer. Als ihr ICE auf San Marco endet, gerät sie in den Strudel des Karnevals von 1742, begegnet dort dem Frauenhelden, dessen Erscheinung sie anfangs enttäuscht, und verstrickt sich in seine Geschichte. Auf Stationen durch halb Europa bleibt sie ihm in verschiedener Gestalt nah, sucht nach der Essenz seiner Ausstrahlung, wird seine nie erreichte ideale Geliebte. Sie erlebt mit, wie der junge Casanova in einem riesigen Bett unterm Baldachin mit zwei Mädchen erste Liebeserfahrungen sammelt, wie er den ambivalenten Reizen eines Kastraten verfällt und, noch in Italien, im Fechtduell um eine Schöne siegt. Ein türkisches Bad wird zum Tummelplatz betörender Wassernixen, im Park von Fontainebleau mit seiner geometrisierten Natur finden sich Höflinge in frivolen Neckspielen. Unter der raffiniert gekippten Kuppel des Petersdoms schlägt der Papst den umtriebigen Liebesdiener zum Ritter, derweil Würdenträger die Hüllen fallen lassen und sich Nonnen zum ChaChaCha formieren. Spanien indes empfängt den Alternden mit Ablehnung. Als groteske Erinnerung an bessere Zeiten bleiben ihm am Ende die Marionetten eines dreitagigen Puppenkabinetts - und die Niederschrift seiner Erlebnisse. Der venezianische Karneval auf San Marco, gesäubert von einer rappigen Putzkolonne, findet nun ohne ihn statt.
Mit „Casanova“ knüpft das Autorenteam an die Tradition der Palasticals an, jener vor Dezennien erprobten Revuen mit inhaltlichem Anspruch, und hat dem neuen Haus gleich Maßstäbe gesetzt. Niclas Ramdohrs stilistisch weitgespannte Musik besitzt Ohrwurmqualität, Uta Lohers Kostüme übertreffen sich in Eleganz, Schnitt und Praktikabilität. Fred Berndts prächtige Bühnenbilder verquicken verblüffend geschickt Videosequenzen und reale Aufbauten, schaffen riesige Plätze für das szenische Geschehen und gestatten furios flinke Verwandlungen. Die Choreografie in eine Hand zu legen, war vielleicht die glücklichste Fügung dieses Abends. Kim Duddy entwarf tänzerische Bilder von raumfüllender, stücktragender Dimension: beim maskengesättigten Karnevalstreiben, im fontänensprühenden Türkenbad, im französischen Rokokopark, in der feurigen Flamenco-Reminiszenz, im Tanz der Girlpuppen. Die artistischen Darbietungen, ob an Strapaten, am Fangstuhl oder auf dem Trampolin, fügen sich mustergültig nahtlos der Gesamtkomposition ein, ohne ihren Eigenwert preiszugeben.
Überzeugendes leistet das junge Darstellerensemble: Adrian Becker und, als sein jugendliches alter ego, der Tänzer Oleksandr Khmelnytskyy in der Titelrolle, Alicia Emmi Berg als Angela und Geliebte, Maike Katrin Schmidt in der allegorischen Partie der Zeit, der virtuos zwischen Bariton und Altus wechselnde Hagen Matzeit als Kastrat und Papst. Unter Peter Christian Feigel breitet das Palastorchester zusätzlich Glanz über eine Revue von außerordentlicher Strahlkraft.
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