Im Zenith der russischen Ballettkultur

Grigorowitschs Bolschoi-„Raymonda“ jetzt auch auf DVD

oe
Stuttgart, 16/03/2005

Wenn ich einen der russischen Ballettklassiker als CD auf die bewusste Insel mitnehmen würde, wäre es – nein, nicht „Schwanensee“, „Dornröschen“, „Nussknacker“, „Bayadere“ oder „Don Quixote“, sondern „Raymonda“. Als CD wohlbemerkt, denn wenn es sich um eine DVD handelte, wäre es wohl doch die „Bayadere“ wegen ihres Schattenaktes. Aber rein musikalisch ist für mich „Raymonda“ die kostbarste der russischen Ballettpartituren, die durchgängig inspirierteste, melodisch süffigste und vor allem die am glänzendsten instrumentierte: musikalische Heraldik vom Feinsten! Das ist sie auch in der jetzt bei Arthaus auf DVD erschienenen Aufnahme (100 719, 125 Minuten) mit dem Bolschoi-Orchester unter Algis Zhuraitis, der bekanntlich zu den großen Ballettdirigenten der Welt gehört (der andere ganz große ist natürlich Yuri Fayer).

Die Musik funkelt unter seinen Händen wie ein mit Juwelen appliziertes Osterei von Fabergé! Es handelt sich um die Bolschoi-Produktion, die Yuri Grigorowitsch mit seinem favorisierten Ausstatter Simon Virsaladze 1984 herausbrachte – damals mit Natalja Bessmertnova, Alexander Bogatyriew und Gedeminas Taranda in den drei Hauptrollen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1989, und sie gibt es ja schon seit längerem als Video unter der Direktion von Shuji Fujii – offenbar eine japanische Produktion von NHK Enterprises. Es ist keine technische Glanzleistung: ziemlich angestaubte, senftopfige Farben, schlechte Beleuchtung, murksige Traumsequenzen – der Held, Jean de Brienne, ein französischer Kreuzritter, aufgetakelt wie Lohengrin.

Die Münchner Produktion von Ray Barra mit den Klaus Hellenstein-Dekors – auch nicht gerade ein großer Wurf (wie beispielsweise die Münchner „Bayadere“) – ist in ihrer Schlankheit um Klassen überlegen! Grigorowitsch hat die ziemlich anämische Story um das südfranzösische Schlossfräulein Raymonda noch weiter ausgedünnt (wie fast alle Inszenatoren zwischen Balanchine und Nurejew). Sie ist verlobt mit dem sich zu einem Kreuzzug verabschiedenden Jean de Brienne, wird aber heftigst begehrt auch von dem Sarazenenfürsten Abderachman. Beschützt wird sie von der geisterhaften Weißen Dame (offenbar eine ferne Verwandte der Fliederfee), die auch zugunsten von Jean de Brienne in den Zweikampf der beiden Rivalen eingreift, so dass die Happy-End-Hochzeit von Raymonda und Jean standesgemäß gefeiert werden kann.

Da der ungarische König anwesend ist, mit einem ausladenden Grand pas hongrois. Dabei hat sich Grigorowitsch eng an die überlieferte Choreografie von Petipa und Alexander Gorsky gehalten und so stilgemäß ergänzt, dass es schwerfällt, irgendwelche Bruchstellen und Nähte ausfindig zu machen. Da auch die Pantomimen auf ein Minimum reduziert sind, wirkt das Ganze wie ein einziges dreiaktiges Grand Divertissement, was aber der Gesamtwirkung nichts von ihrem strahlenden Glanz nimmt: ein tänzerisches Juwelen-Collier aus lauter choreografischen Diamanten. Zumal wenn so brillant, so kristallinisch funkenstiebend getanzt wird wie in dieser Aufnahme. Es ist das reinste Wellness-Bad in betörend duftendem Zarenklassizismus. Von der Premierenbesetzung sind noch Bessmertnova als Raymonda und Taranda als Abderachman übriggeblieben, den Jean de Brienne tanzt hier Yuri Vasyuchenko – die kleineren Rollen sind alle mit ersten Solisten besetzt.

Kein Ende des Schwelgens und Schwärmens: diese Musikalität, diese Légèreté, diese Grazie und Courtoisie, diese Reinheit der Linien und absolute Synchronität! Bessmertnova ist eine anfangs noch recht kühle und unpersönliche Raymonda, lässt sich durch den wilden erotischen Charme von Abderachman keinen Moment aus der Ruhe bringen, taut erst gegen Schluss auf und zeigt dann auch wärmere Züge, Tanrandas Abderachman hat großes exotisches Format in der Nachfolge des Super-Macho Tschabukiani (und Nurejew), Vasyuchenko demonstriert auch als Bolschoi-Prinzipal St. Petersburger Reinheitskult, bleibt aber doch insgesamt reichlich unpersönlich. Nein, das ist ganz und gar nichts für Tanztheater-Anhänger, während die Gläubigen der Ballettomanie voll auf ihre Kosten kommen!

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