Kauf dir einen schwarzen Luftballon

Drei Uraufführungen beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 22/02/2005

Waren das noch Zeiten, als sich die Choreografen ein Musikstück vornahmen und es von vorne bis hinten vertanzten. Heute ist ihnen die Musik nicht mehr so wichtig, man macht sie einfach passend zum Stück und stellt munter Collagen zusammen. Aber sind wir damit schon „Beyond Ballet“, jenseits des Balletts? Rein choreografisch wagt sich nur eines der drei Stücke des so betitelten Abends beim Stuttgarter Ballett über die Grenzen hinaus, über den heutigen Stand des Bewegungsvokabulars im modernen Ballett - keine besonders gute Ausbeute.

Ihr Bühnenbild entwarfen die Choreografen der drei Uraufführungen im Stuttgarter Schauspielhaus jeweils selbst, sämtliche Kostüme des Abends stammen von Michaela Springer. Besorgte junge Menschen klettern bei Matjash Mrozewski in modischen Pastellfarben aufeinander herum, dazu raunt die glöckchenbimmelnde Percussion-Musik von Owen Belton mythische Weisheiten im tiefen Bass. „Avatar“ heißt das Ballett des Kanadiers, nach der irdischen Inkarnation eines Geistes. Diese Naturgeister quellen in Form von sechs Tänzern aus einem Loch im Boden, verscheucht werden sie von einem Paar in eleganter Dinner-Robe: aha, die Zivilisation. Mrozewskis kitschiger Naturbegriff schlägt sich in Tanz, Dramaturgie und Bühnenbild in platten Eins-zu-eins-Abbildungen nieder, einmal fiept gar ein Waldvögelein. Bis auf zwei, drei interessante Hebungen im Pas de deux von Sue Jin Kang und Jiri Jelinek sehen die Bewegungen nie zwingend aus, mehr wie eine zufällige Auswahl.

Das pseudo-engagierte Öko-Ballett können selbst die hervorragenden Tänzer des Stuttgarter Balletts nicht retten. Und wollen es irgendwie auch gar nicht. Wo Mrozewski eine Handlung andeutet, spielt Marc Spradling mit den Formen, ersetzt waberndes Pathos durch Abstraktion und ironisches Understatement. Der Amerikaner, früher Tänzer bei William Forsythe und heute Professor für klassisches Ballett an der Frankfurter Musikhochschule, verwendet eine ganz ähnliche Percussion-Musik wie das erste Stück, zum Schluss erklingt ein Stück des Berliner Komponisten Boris Bell für sieben Trommler sogar live.

„melodious gimmick to keep the boys in line“ beginnt und endet in der äußersten Tiefe der nackten Bühne, die vertikale Bewegungsrichtung von hinten nach vorne verleiht Spradlings origineller Raumausnutzung große Dynamik. Die sechs Männer tragen braune Overalls, die sechs Frauen knappe, knallrote Trikots - es sieht aus, als hätten würden sich die Bühnenarbeiter um ein paar Forsythe-Tänzerinnen balgen. Aus dem optischen Gegensatz entstehen Ideen von Verführung, Konkurrenz und Wettbewerb, choreografiert in dem athletischen, virtuosen Presto-Stil, den man in Stuttgart schon von Itzik Galili kennt, intellektueller allerdings und nicht so auf Effekt bedacht.

Sehr kontrovers aufgenommen wurde Marco Goeckes „Sweet Sweet Sweet“, ein neues Albtraumballett des jungen Wuppertaler Choreografen. Wenn der Vorhang aufgeht, spiegelt sich blaues Licht in Tausenden schwarzer Luftballons, mit denen die Bühne bedeckt ist. Der feste Boden scheint verschwunden, bei jeder Bewegung auf der Bühne schweben und springen die Ballons nach allen Seiten. Das Stück beginnt mit einem langen Kuss zwischen zwei Tänzern, deren Hände über ihre Körper flattern, und schickt die Assoziationen auf eine Gratwanderung zwischen Liebestraum und Schwulenporno. Und so geht es weiter, in einer dunklen, assoziativen Traum-Ästhetik, in der nichts eindeutig ist, hin und her zwischen Kasperletheater und Zwangsneurose, zwischen Psychiatrie und purer Magie. Das lustige Kinderspiel mit der Überraschung gefriert zu angstverzerrten Gesichtern und immer wieder zu Gewalt gegen den eigenen Körper: eine ständige Verunsicherung, auf die viele Zuschauer mit Lachen reagieren, andere mit Unmut.

Goeckes Bewegungen sind frenetisch und schnell, er choreografiert für Arme, Schultern, Oberkörper und das Gesicht. Es ist nicht die schöne Ästhetik des Balletts, es ist nicht einmal das zertrümmerte Vokabular des klassischen Tanzes - es sind völlig andere Bewegungen, Fetzen aus dem Alltag oder aus der Fantasie eines Psychopathen, übersteigert oder in Einzelteile zerlegt. Ihre hektische Wiederholung macht aggressiv, ihre Zwanghaftigkeit lässt ratlos. Um so staunenswerter sind die Stuttgarter Tänzer, die sich hier so völlig anders bewegen als sonst: Jason Reilly, Elena Tentschikowa, Evan McKie, Katja Wünsche, Damiano Pettenella und all die anderen. Sie zerren und zupfen an ihren Gesichtern, schlagen sich, blasen den Bauch auf, zerknüllen Papier, formen traurige Verbrüderungsrituale.

Aber Goecke zeigt nicht nur nie gesehene Bewegungen, sondern er hat das, was so vielen Choreografen fehlt: eine unglaubliche Bildkraft, eine theatralische Imagination. Irgendwann springen riesige Windmaschinen an, und zu einer melancholischen Jazzballade wirbeln die Ballons über die Bühne, bilden Berge und Strudel, tanzen ganz alleine. Ein einsamer Tänzer taucht hinein, wirbelt durch die schwarzen Luftballons, wie durch ein Kinderland im tiefsten, entsetzlichsten Dunkel.
 

Premiere am 20.2.2005 www.stuttgart-ballet.de 
Karten unter: www.staatstheater.stuttgart.de

 

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