Kein Ende in Sicht

Der Sammelband „Spiegelungen - Die Ballets Russes und die Künste“

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Stuttgart, 30/04/2005

Nein, nicht noch ein Buch über Diaghilew und die Ballets Russes! Und noch dazu ein bereits sieben Jahre altes, von dessen Existenz ich bisher keine Ahnung hatte (obgleich ich mir einbilde, im Allgemeinen ganz gut informiert zu sein). Es handelt sich um „Spiegelungen – Die Ballets Russes und die Künste“, herausgegeben von Claudia Jeschke, Ursel Berger und Birgit Zeidler in der Reihe der Choreologica, Studienbliothek zur Geschichte der Tanzkunst, aus dem Tanzarchiv Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Institut für Theaterwissenschaften der Universität Leipzig, Verlag Vorwerk 8, Berlin, 254 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN 3-930916-11-8, Euro 28,00. Wie gesagt: erschienen bereits 1997.

Es ist ein schönes Buch, solide gebunden, mit vielen, meist ganzseitigen Illustrationen, auch in Farbe. Man blättert gern in ihm, weil die Qualität des Papiers so handfest ist – und registriert mit großer Zustimmung, dass es vor der unseligen Rechtschreibreform gedruckt worden ist. Parties sind hier also noch Parties und nicht Partys, und Potential schreibt sich noch so und nicht Potenzial! Und das Wichtigste: es ist eben nicht bloß ein weiteres Buch über die Ballets Russes und ihre reziproke Beziehung zu den Künsten, sondern es erschließt überraschend viele neue Perspektiven – auch demjenigen, der meint, gut über die Wirkungsgeschichte der Diaghilew-Kompanie Bescheid zu wissen.

Erschienen ist es offenbar in Zusammenhang mit der Ausstellung „Die Ballets Russes in der Berliner Kunst“, die 1997 im Georg Kolbe Museum in Charlottenburg stattfand – mit einer Fülle von Exponaten von unter anderen von Ludwig Kainer, Fritz Klimbsch, natürlich Kolbe, Ernst Oppler, Max Pechstein und Max Slevogt. Der Katalog dieser Ausstellung ist hier noch einmal abgedruckt – zusammen mit den Spielplänen der Berliner Gastspiele der Diaghilew-Truppe von 1910 bis 1914 und einem überaus informativen Artikel von Gunhild Oberzaucher-Schüller „Interlude classique – Sergei Diaghilew im Kaiserlichen Berlin“ (dazu auch Sibylle Dahms „contre les Philistins – Zur Idee des Poetischen in Schumanns und Fokins ‚Carnaval‘“ – und Birgit Zeidler über „Ballettenthusiasmus in der Berliner Presse“).

Aber dann müsste man eigentlich jeden der insgesamt zwölf Beiträge dieses Sammelbandes nennen, denn jeder einzelne birgt eine Vielzahl von neuen Einsichten. Allein drei beschäftigen sich mit Nijinsky (Ursel Berger, „Le Modêle ideal? Nijinsky, Maillol, Rodin und Graf Kessler“ – Selma Odom, „Nijinsky in Hellerau“ – Nancy Van Noman Baer, „Die Aneignung des Femininen – Androgynität im Kontext der frühen Ballets Russes 1919-1914“). Geradezu verblüffend, was Ada Raev „Zum choreographischen Ansatz in den Kostümentwürfen von Léon Bakst und seinen Folgen“ zu sagen hat. Jean-Michel Nectoux untersucht „Schéhérazade – Musik und Tanz“ und Andreas Backöfer schreibt über „Von der Harmonisierung zur Provokation – Aspekte der Beziehung bildende Kunst – Bühnenbild“.

Ungemein spannend finde ich auch die Erörterungen von Christopher B. Balme und Claudia Teibler über „Orient an der Wolga – Die Ballets Russes im Diskurs des Orientalismus“ und eine völlig neue Perspektive hat mir Gabriele Brandstetters Untersuchung „Die Inszenierung der Fläche – Ornament und Relief im Theaterkonzept der Ballets Russes“ mit ihren Beziehungen zum Jugendstil und zu Art Deco sowie zum japanischen Holzschnitt und dem Schattentheater erschlossen. Und geradezu verblüfft war ich über die Korrespondenzen, die Lynn Garafola in ihrem Essay über „Tanz, Film und die Ballets Russes“ entdeckt hat – namentlich zur russischen Avantgarde der Tairow und Meyerhold sowie der italienischen Futuristen um Marinetti und Ballo, aber auch zu Loie Fuller.

Kurzum: ein Buch, bei dem man aus dem Staunen nicht herauskommt, und dessen Fülle neuer Informationen einen geradezu erschlägt – sogar die Quellenverweise und Fußnoten bieten eine spannende Lektüre. Gewünscht hätte ich mir lediglich noch ein Kapital über die Wandlungen der Choreographie in den zwanzig Jahren der Diaghilewschen Ballets Russes sowie ein Verzeichnis der Titel und Personen. Bestelladresse: epodium Verlag

 

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