Neues Generationen-Team
Raimondo Rebeck und Kristína Paulin übernehmen das Staatsballett Karlsruhe
Petipa, Balanchine, Forsythe, Kohler - und, nicht zu vergessen, Birgit Keil zum Saisonschluss
Mit der Bewerbung als Kulturhauptstadt mag Karlsruhe gescheitert sein. Vielleicht hätten sie der Entscheidungskommission ja eine Ballettvorstellung im Badischen Staatstheater präsentieren sollen. Denn so viel ist klar: Birgit Keil und ihre Kompanie sind die Ballett-Aufsteiger der Saison. Das hat sich inzwischen bereits auch jenseits der badischen Grenzen herumgesprochen. Denn wo immer ich in diesen Tagen und Wochen auch auftauche, überall werde ich gefragt: und Karlsruhe? Dort herrscht heutzutage eine Ballett-Aufbruchsstimmung wie in Stuttgart Anfang der sechziger Jahre. Und das ist wörtlich zu nehmen. Mit dem Coup, Peter Wright mit seiner gloriosen „Giselle“-Einstudierung nach Karlsruhe zu locken, knüpft Birgit Keil im Jahr zwei nach ihrem Amtsantritt als Ballettchefin direkt an die Stuttgarter Tradition an – und schon hat Sir Peter versprochen, in der nächsten Spielzeit mit seiner „Coppélia“-Produktion wiederzukommen (vormerken: 19. November im Großen Haus).
In ihrer letzten Ballettproduktion der Saison hat sie jetzt noch einmal unmissverständlich die Prinzipien ihrer Ballettpolitik statuiert: ein klares Bekenntnis zur Tradition und deren kreative Fortschreibung bis in die jüngste Gegenwart nebst Förderung der jungen und jüngsten Generation, sowohl im Hinblick auf den Tänzernachwuchs als auch in der stetigen Pflege ihres choreografischen Hoffnungsträgers. Das hieß praktisch gestern: einmal Marius Petipa („Paquita“), zweimal George Balanchine („Apollo“ – sogar als „Apollon musagète“, also noch mit dem Vorspiel der Geburt, von Heinz Clauss so wunderbar klar und rein einstudiert, wie er ihn selbst vor Jahr und Tag getanzt hat – nebst dem „Tschaikowski Pas de deux“), einmal William Forsythe („The Vertiginous Thrill of Exactitude“ – der klassischste aller Forsythes, zum letzten Satz von Schuberts großer C-Dur Sinfonie) und Terence Kohlers „Intermezzo for 20“ zu einer Auswahl aus Schostakowitschs Ballettsuiten. Das Ganze von Jochem Hochstenbach und der Badischen Staatskapelle musikalisch mit zündender Treibkraft in Gang gehalten.
Bilanz der begeistert aufgenommenen Premiere: in Zukunft wird man die Ballettarbeit in Karlsruhe als vor und nach Birgit Keil terminieren. Dann wäre dies also der Ballettabend im Jahr 2 n. B. K. (obgleich die reale B. K. ja noch von beglückend inspirierender Gegenwärtigkeit ist)! Doch lassen wir die Kirche im Dorf! „Paquita“ entstand 1846, fünf Jahre nach „Giselle“ und die Hauptrollen tanzten die damals 27-jährige Carlotta Grisi (die erste Giselle) und der 31-jährige Lucien Petipa (als Bruder von Marius Petipa der erste Albrecht) – also geradezu Senioren im Vergleich zu den Karlsruher Youngsters. So glich die wackere Karlsruher Einstudierung von Birgit Keil höchstpersönlich (in der Kostümausstattung von Vladimir Klos) noch eher der Abschluss-Meisterklasse eines Akademie-Jahrgangs als der Uraufführungsgala in der Pariser Rue Le Peletier. Mal abwarten, wie das in der 40. Vorstellung aussieht. Hoffnungsvoll stimmte die Präsentation auf jeden Fall.
Bereits einen Reifegrad höher rangiert der Qualitätsstandard des Karlsruher „Apollo“ mit Flavio Salamanka und seinen Musen-Botschafterinnen Meng Cui, Imogen Wearing und Anais Chalendard, und wenn auch der anschließende 2Tschaikowski Pas de deux“ noch nicht das kristallinische Funkeln eines Diamanten versprühte, so tanzten ihn Sabrina Velloso und Alexandre Simões doch so risikospontan als wollten sie beweisen, was für einen Rohdiamanten Karlsruhe da mit der Genehmigung des Balanchine Trust importiert hat. Und dass die Karlsruher bereits im zweiten Jahr n. B. K. ein Tänzer-Quintett für die Turbo-Choreografie Forsythes aufbieten konnten, spricht für die dortige tänzerische Aufbauarbeit. Denn mit seinen eigenen Tänzern konnte sich Forsythe erst 1996, also im Frankfurter Jahr 12 n. W. F., an diese beinbrechend virtuose Choreografie wagen.
Und dann also zum Schluss noch Kohlers „Intermezzo for 20“ (warum eigentlich „for“ statt eines deutschen „für“?) – ein echter Rausschmeißer, wie die Musik des jungen Schostakowitsch. Das beginnt noch vor dem musikalischen Einsatz wie ein postkommunistischer „Schwarzer Schwan“ und steigert ich dann wie eine mit tänzerischem Dynamit aufgeladene Lawine ins donnernd über die Bretter jagende Finale. Und beweist damit einmal mehr, dass Karlsruhes gerade mal 21-jähriger „Hauschoreograf“ offenbar nicht nur ein Mann für alle Jahreszeiten, sondern auch für alle Sorten von Musik ist.
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