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Ein Kommentar zum Tanzkongress 2019
Die Eröffnungsvorträge von Sarat Maharaj, Gabriele Brandstetter und Johannes Odenthal
Das Kernthema des Kongresses ist die Frage, inwieweit der Tanz eine spezifische Form von Wissen birgt, die an Körper und Bewegung gebunden ist. Das einzigartige kulturelle Potenzial des Tanzes als Archiv und Medium des Wissens wurde in zentralen Veranstaltungen des Kongresses von unterschiedlichen Seiten untersucht. Die Zeit für anschließende Diskussionen war von den Veranstaltern bei weitem zu kurz bemessen. Im Folgenden die Kerngedanken der drei Eröffnungsvorträge am 21. April.
Prof. Sr. Sarat Maharaj, Kunsttheoretiker und -historiker, (Goldsmiths College London/Lund University Schweden) widmet seinen Eröffnungsvortrag Aspekten von „Wissen und Nicht-Wissen in der Kunst“. „Warum ist Tanz heute eine der wichtigsten Bereiche der Wissensgesellschaft“, fragt Sarat Maharaj. Er sieht Tanz als körpergewordenes Wissen an, das der Logik des Computerwissens in der Postfordschen Gesellschaft und deren Hybridisierungen in Arbeit und Politik entgegensteht, da Tanz, gleich welcher Art, als Bewegungssystem die Trennung von Körper und Geist nicht kennt bzw. aufhebt. Tanz ist zugleich ein Denkmodell, das der Virtualisierung (Verdampfung des realen Körpers) entgegensteht, in dem es sich zunehmend dem visuellen (real sichtbaren) Körper als vergänglichen, migranten, terrorisierten, gefolterten Körper zuwendet.
Mit Verweis auf Laban (London 1935) und A. Artaud unterstreicht der Referent, dass Tanz als Modell für ein neues Denken bei der Exploration unserer heutigen Welt dienen kann. Er fordert eine Reorganisierung der kapitalistischen Arbeitsteilung, für die wir alle in der Kunst, wie in der Politik, kämpfen müssen. Im Spannungsfeld von Virtuosität, Visualität und Virtualität gilt es auch den großen Wissensverlust, als Folge einer Herauslösung und Abspaltung von Tanz von anderen Wissensgebieten der Kunstgeschichte, Soziologie usw., durch wissensübergreifende interkulturelle Strukturen und Inhalte zu überwinden.
Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, Tanzwissenschaftlerin Freie Universität Berlin beginnt ihren Vortrag zu „Tanz als Szeno-Grafie des Wissens“ mit der Eingangsfrage: Warum sind wir Analphabeten, wenn es um Bewegung geht? Mit Bezug auf die legendären deutschen Tänzerkongresse und die künstlerischen wie politischen Richtungskämpfe im modernen Tanz der 20er und 30er Jahre, stellt sie Fragen nach dem Gedächtnis von Tanz-Kultur. Sie richtet ihr Augenmerk auf Tanz als Schauplatz eines sinnlich-dynamischen Wissens. Tanz ist nicht statisch, sondern dynamisch; also ist auch das Wissen vom Tanz nicht statisch, sondern dynamisch. Das Verständnis von Körper und Körperlichkeit, das sich in unterschiedlichen Konzepten von Tanz und Choreografie zeigt, transportiert ein „anderes Wissen“, das komplementär oder auch quer steht zu den Diskursen in den Wissenschaften.
Dr. Johannes Odenthal, Leiter Fachbereich Musik/Theater Haus der Kulturen der Welt Berlin, untersucht in seinen Darlegungen die „Bedeutung von Tanz für eine mögliche Kulturpolitik“. Was hat sich in der Tanzszene der Bundesrepublik in den zwanzig Jahren von 1986 bis 2006 verändert? Wo hat das Potenzial des modernen zeitgenössischen Tanzes angedockt? 1986 gab es starke Grenzen zwischen Klassik und Moderne, zwischen Wissenschaft und Praxis. Heute dagegen, so Dr. Odenthal, lebt der Geist der Kooperation und des Kollaborierens und hat zu einer Durchlässigkeit zwischen Klassik und Moderne geführt. Tanzhäuser in Düsseldorf, Potsdam, Hellerau, Frankfurt/Main, Tanzraum Berlin usw. haben die Herausbildung kooperativer Modelle/Formate zwischen Freien und Produzenten gefördert. Es gibt Versuche aus festen Theaterstrukturen auszubrechen (Oldenburg, Nürnberg) und Autonomie gegenüber dem Opernbetrieb zu erlangen (Staatsballett Berlin).
Es gibt eine völlige Neubestimmung der Archive, als immensen Wissenswert für das kulturelle Gedächtnis im und durch Tanz. Völlig neue nationale wie internationale Netzwerke und Festivals zur Förderung von Tanz sind etabliert worden. Es werden grundlegend neue Überlegungen zur Ausbildungssituation an den Tanzhochschulen diskutiert und erprobt und zugleich ist ein neuer Typus von Dramaturgie entstanden, der Wissenschaft und Praxis bündelt.
Dr. Odenthal beschreibt die heutigen kulturpolitischen Herausforderungen in Deutschland: großer Reformdruck in den kulturellen Institutionen (Theater, Museen) durch die Auflösung nationaler Strukturen, gleichermaßen starker Reformbedarf im Bildungsbereich (der ganzheitliche interkulturelle Austausch im zeitgenössischen Tanz ist auch hier als eine vorbildliche Grunderfahrung nutzbar zu machen). Wie kommt die junge Generation in einen Austausch mit Kunst, Kultur, Gesellschaft, fragt der Referent und plädiert ausdrücklich für den Ausbau von interdisziplinären Parallelstrukturen mit langfristiger Förderung, für eine neue Ausstattung der Tanzarchive als Gedächtnisorte modernen Tanzes.
Es gibt keine internationale Tanzlandschaft im Aufbruch wie derzeit in Deutschland, so Odenthal, aber Repertoirebildung ist eine Möglichkeit der extremen Beschleunigung der Produktion entgegen zu wirken, historisches Wissen von Tanz und Gesellschaft ist notwendig, damit Generationen von Tänzern und Choreografen nicht stets bei null anfangen.
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