Der stille Tod der Kurtisane

Wiederaufnahme von John Neumeiers "Kameliendame" beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 31/07/2006

Dieses Ballett ist ein Meisterwerk. Gerade im Vergleich zu den mittelprächtigen oder misslungenen Handlungsballetten der letzten Zeit steht man vor der einzigartigen Dramaturgie, mit der John Neumeier den berühmten Roman von Alexandre Dumas für die Ballettbühne umgesetzt hat, immer wieder fassungslos. Durch zahlreiche Spiegelungen und Rückblicke webt der Choreograf ein dichtes Netz von Beziehungen, in dem alles auf- und nichts verloren geht, in dem die Liebesgeschichte der Kurtisane Marguerite Gautier und des jungen Armand Duval nie durch Pantomime, sondern in Bewegungen, Blicken, Bildern erzählt wird. Getanzt in den verschwenderischen Kostümen von Jürgen Rose mit ihrer Farbpalette aus sommerlichem Weiß, prachtvollen Bällen und allen Brauntönen des Herbstes, berauscht von der glitzernden Melancholie der Chopinschen Klaviermusik besitzt diese „Kameliendame“ zweifellos eines der zwingendsten Ballettlibretti aller Zeiten.

Ein großer Pas de deux der beiden Liebenden steht im Zentrum jedes der drei Akte, sie markieren Anfang, Glück und Abschied. Die Corpsszenen fügen sich ideal in die Handlung (wobei das Stuttgarter Corps de ballett bei dieser Wiederaufnahme den technisch schwierigen zweiten Akt noch nicht im Griff hatte). Mit Einfällen von genialer Einfachheit beweist Neumeier, warum er der beste Geschichtenerzähler unter den lebenden Choreografen ist: wenn etwa die elegante Kurtisane im zweiten Akt mit offenen Haaren tanzt und einen glücklichen Pas de deux lang zum jungen Mädchen wird, wenn die todesmüde Marguerite in den Armen ihrer Traumerscheinungen Manon und des Grieux Trost sucht, oder wenn das musikalische Thema der Kameliendame, das Largo der h-moll-Sonate, zu ihrem stillen Tod nicht mehr aus dem Orchestergraben, sondern aus der Ferne erklingt.

Gegen diese einzigartige dramatische Erzählkraft mag John Neumeiers eigentliche Choreografie manchmal einen winzigen Hauch pathetisch oder gar übertrieben erscheinen (etwa in der Sexualakrobatik des letzten Pas de deux), dabei ist sie hier offen und weit, noch frei von den intellektuellen Manierismen, zu denen Neumeier in späteren Werken zeitweise neigt. Eine Szene wie der getanzte Dialog zwischen Marguerite und Armands Vater wischt mit ihrem alles sagenden Minimalismus solche Einwände ohnehin vom Tisch.

Das Ballett entstand 1978 für Stuttgart und war seitdem mit kleineren Pausen immer im Repertoire. Und doch sind im Lauf der Zeit viele Feinheiten verloren gegangen, manches ist mit der Zeit einfacher und holzschnittartiger geworden (zuallererst das Programmheft – wohl dem, der Angela Daubers reiches, herrlich bebildertes Programmbuch von damals sein eigen nennt). An einigen Stellen stimmt die genaue Phrasierung der Bewegungen nicht mehr, vor allem bei den Männern; das mag zwar Interpretationssache sein, lässt aber die Choreografie unmusikalisch und verwischt aussehen, etwa beim Solo Gastons im zweiten Akt. Gerade an Gaston und Prudence, dem heiteren Gegenpaar zu den tragischen Liebenden, fällt auf, wie platt manche Charaktere geworden sind. Obwohl Jason Reilly und Elena Tentschikowa ihre Rollen technisch glänzend ausfüllen, fehlt beiden die französische Eleganz, das unbedingte Stilbewusstsein bei aller Leichtlebigkeit. Rolando d'Alesio mag ein großartiger Vater Duval sein, aber es mangelt ihm ebenso an gewichtiger Persönlichkeit wie dem Herzog – Douglas Lee, vor fünf Jahren selbst noch ein verheißungsvoller Armand, bleibt als Marguerites reicher Liebhaber geradezu verheerend harmlos, ähnlich Laura O'Malley als Olympia.

Während des gesamten Stücks spiegeln sich Marguerite und Armand auch in den weiß geschminkten Theaterfiguren Manon und Des Grieux; wo Mikhail Kaniskin die exaltierte Übertreibung dieses Spiels im Spiel durch seine reine Klassizität veredelt und den bis zuletzt treuen Liebhaber zum theatralischen Gegenentwurf Armands macht, da ist Alicia Amatriain als Manon eben nicht das Spiegelbild Marguerites, sondern lenkt die Aufmerksamkeit viel zu sehr auf sich selbst. Kein Fünkchen Mitleid bringt sie ihrer Schwester im Leide entgegen. Die beiden Hauptrollen aber spornen immer neue Tänzer zu immer neuen Glanzleistungen hin.

Wie viele Partner hat Sue Jin Kang im Laufe ihrer Karriere in Stuttgart schon gehabt, und alle reißt sie durch ihre dramatische Wucht zu großartigen Rollenporträts hin. Obwohl gerade die Kameliendame von Marcia Haydée geprägt ist wie keine andere Rolle, durchlebt Kang – nach einer kurzen Oberflächlichkeit in ihrem ersten Solo in der Opéra – all die Emotionen Marguerites auf ihre ganz eigene Weise: die Ahnung des Alterns, das zögernde Staunen über die Möglichkeit einer echten Liebe, die verzweifelte Größe des Verzichts auf Armand, das Festklammern an ihrer Liebe bis zum Schluss. Da mag Alicia Amatriain gerne den Zukunfts-Tanzpreis mit der Widmung „führende Ballerina der Kompanie“ bekommen – wer diese Aufführung gesehen hat, weiß es besser. Marijn Rademaker begann die Vorstellung als viel versprechender Halbsolist, und er beendete sie als strahlender Etoile – noch beim Schlussapplaus ernannte ihn Ballettdirektor Reid Anderson auf offener Bühne zum Ersten Solisten. Der blonde Holländer mag anfangs nicht so recht der scheue Jüngling sein, ja er baggert die Kurtisane regelrecht an, anstatt gleichsam im Schock über dieses neue Gefühl zu erstarren. Aber bis hin zu dem Sarkasmus, mit der er sie am Schluss bezahlt und beleidigt, stürzt sich Rademaker rückhaltlos in die Leidenschaft der großen Pas de deux und lässt sich von keinen schwierigen Hebungen oder Drehungen aufhalten. Dass sich sein Porträt im Augenblick noch ein bisschen zu stark an Robert Tewsley orientiert, wird sich sicher noch ändern.

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