Vision einer Welt transzendierten Leids

John Neumeiers „Requiem“ zu Gast bei den Dresdner Musikfestspielen

Dresden, 07/06/2006

Keine visualisierte Partitur, auch kein Ballett über Mozarts legendenumwobenen Tod habe ihm vorgeschwebt, äußerte John Neumeier in einem Gespräch anlässlich der Uraufführung seines „Requiem“ 1991 während der Salzburger Festspiele. Vielmehr gehe es ihm um „choreografische Meditationen“, die auch den Titel „Unterwegs zwischen Leben und Tod“ tragen könnten. Einfühlsam hat er dazu zwischen die Teile von Mozarts musikalischem Torso Texte der gregorianischen Totenmesse gestellt sowie die fehlenden Teile des Requiems durch gregorianische Gesänge aufgefüllt. Entstanden ist so ein stillfließend eindringliches, in sich geschlossenes Werk, das eindreiviertel betörende Stunden lang die letzten Dinge des Menschen verhandelt und gleichsam die tröstlichen Gewissheiten christlichen Glaubens vermittelt. Nach der Hamburger Wiederaufnahme 2005 erfüllte es als Gastspiel im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele filigran das Schauspielhaus der anderen Elbmetropole. Schlank sich gen Himmel rankende Choräle rahmen den Abend.

Von Neumeier stammen auch Kostüme und Bühnenbild. Links vorn zeichnet sich vor einem Streif erleuchteten Glases ein Bäumchen ab. Von rechts schiebt sich eine Bankreihe diagonal ins Dunkel der Szene, endend unter einer Brücke. Aus schwarzer Mitte entspringt musikalisch auf Glockenschlag eine Prozession hell Gekleideter. Schritt um Schritt zieht der Zug barfuß und ernst seine Bahn auf den Baum zu, beugt regelmäßig anbetend das Knie. Hinter diesen Gleichen tauchen Einzelne in schwarzem Trainingsdress auf, als bereiteten sie sich auf eine Bühnenprobe vor. Eng und einander abgewandt setzen sie sich auf die Bänke, nehmen weder von der darauf Liegenden Notiz noch von den Hellen, deren Arme sich harmonisch zu einer Welle vereinigen. Als mit ihrem Abgang das Kyrie des Chorals endet, setzt mit seinem Kyrie Mozarts Requiem ein.

Eine Frau verlässt die Sitzenden, stellt sich der Situation, auf Spitze, mit offenem Haar, kantiger Bewegung. Ein Mann gesellt sich ihr zu, lädt sie auf den Rücken, trennt sich indes rasch wieder. Betroffene fahren auf, laufen ziellos, stürzen zu Boden, liegen in Kreuzesform. Als Kreuz wird auch der Anführer der Hellen hereingetragen, für die Neumeier immer wieder hinreißend subtile Bilder und Gliederungen mit organischen Übergängen von Form zu Form findet. Trauervoll verharren sie im Zentrum einer sinnentleert agierenden Welt. Als eine Frau die Brücke im Hintergrund erklimmt und viele ihr nacheilen, scheint sich ein Ausweg anzubahnen. In einem virtuosen Männersolo artikuliert sich die allgemeine Stimmung: verzweifelt, hilfesuchend, orientierungslos. Zwei Männer verkeilen sich in Liebe, Frauen zeigen auf sie. Als sich Paare bilden, entziehen sich die Männer der Umarmung.

Im „Lacrimosa“ beklagt eine Frau ihren liegenden Partner, wird von den Freundinnen zärtlich umhüllt. Ganz in der Stille taucht einer der Hellen als Verkündigungsengel auf. Kreisrund tanzt die Frau das Erfahrene heraus, den Hellen öffnet sich wissend der Mund zum Schrei. Menschen versammeln sich derweil entfremdet wie zum Abendmahl, bis ein Mann jenes weiße Hemd überstreift, das eine Frau in Weiß brachte. Nach ihrem choralischen Sanctus richten die Hellen auf Mozarts Sanctus die Gestürzten auf. Voller Hingabe finden sich der Todgeweihte und die Erfahrene, beide endlich zur Liebe bereit, ehe der Mann im Geäst sein Totenhemd abstreift und niedersinkt. Zwei Agnus Dei folgen da einander, mit wundervollen Stützformationen das der Hellen, als feinnerviges, verinnerlichtes Solo des Einverständnisses das des Gestorbenen. Miteinander erfasst auch die Menschen. Weniger Ratlose sitzen auf der Bank, als der Tote und die Hellen unter Glockenklang dem Spalt des Verschwindens zuschreiten, bis Dunkel sie schluckt.

Fast 50 Tänzer sind an Neumeiers Vision einer Welt beteiligt, in der Leid transzendiert. Die Zwillinge Jirí und Otto Bubenícek, Lloyd Riggins, Joelle Boulogne, Anna Polikarpova seien stellvertretend für eine Compagnie der beredten Körper genannt, die sich mühelos und ideal temperiert den unsentimental empfindsamen Intentionen ihres Meisters anschmiegen.

 

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