Altmeisterliches
Tanz im August: Neues von Jérôme Bel und Estelle Zhong Mengual sowie Meg Stuart und Francisco Camacho
Selbst wenn nicht alles golden war, was in den Vorankündigungen glänzte, darf der 18. Tanz im August, besser als mancher Vorgänger, ein ertragreicher Jahrgang heißen. Zwei Tendenzen setzte auch die zweite Halbzeit des Internationalen Tanzfests Berlin fort: zeitgenössischem Tanz klassische Musik als Partner und Gegenpol beizugeben, nicht nur als stimmungszeugende Folie; Wiederaufnahmen älterer Erfolgsinszenierungen, als repertoirebildende Maßnahme im zeitgenössischen Tanz mit seinen Einwegproduktionen wurde gefeiert. Als Beispiel für beide Trends steht, nach Michèle Anne De Meys „Sinfonia Eroica“ zur Eröffnung, auch „Mozart/Concert Arias“ ihrer belgischen Heimatkollegin Anne Teresa De Keersmaeker fürs Festivalfinale. Dass eine Choreografin von Rang so wenig tänzerischen Zugang zu jenen virtuosen Konzertarien findet und dürftigsten Gestus zu einem zweistündigen Bilderpotpourri zerdehnt, macht dieses hingestürzte, verturnte, zerulkte Kunstgewerbe aus dem Jahr 1992 zu einem der peinlichsten und überflüssigsten August-Abende.
Auch Emio Greco, Italiener aus Amsterdam, unterlegt seinen 100 Minuten Suche nach der Hölle in uns, neben Tonfolgen in Endlosschleife, Klassik in Tanz und Musik. Seichte Diskotrance konfrontiert er mit der kahlbäumigen, videoüberwachten Vorhölle und ihrem gleißenden Tor zur Unterwelt. Minimal auslenkendes Bewegungsvokabular in steter Veränderung treibt die unerfüllt Wartenden um, Klangeinbrüche reißen aus Gewohnheiten, ein maskierter Tod lauert allgegenwärtig. Paradiesisch kleiderlos, als sei das ewige Leben angebrochen, endet das anregend verrätselte Stück in einem Tanzinferno auf Beethovens Schicksal-Motiv der 5. Sinfonie. Vorzügliche Tänzer machen „Hell“ zum Himmel.
Gleichermaßen langlebig könnte Tero Saarinens „Borrowed Light“ sein. Lieder, a cappella von der Boston Camerata eingestreut, Tänze und die religiöse Hingabe der Shaker inspirierten Finnlands choreografischen Hauptexponenten zu einer dichten, überwältigend atmosphärischen 70-Minuten-Studie. Aus dem Nebel einer dreiseitig geschlossenen, von schwarzen Podien gegliederten Landschaft schälen sich dunkle Gestalten in weiten Hosen und Kaftan. Mit ausholenden, himmelwärts gereckten Armen, der Körpermitte entspringenden Dehnungen und breitbeiniger Bodenständigkeit, mit Torsion, Klatscher, Stampfer schleudern sie heraus, was sie quält: Höllenangst, Lebenspein, Konflikt, Alleinsein, Heilsversagen. Tanz, Gesang, Ausstattung und Licht von Rundumqualität verschmelzen in düsterschöner Ästhetik zu verallgemeinerter Aussage über Hingabe in der Gemeinschaft.
Hingabe verhandelt auch „Régi“, ein assoziatives Trio des Franzosen Boris Charmatz. Nicht mehr selbsttätig geraten Menschen aneinander: Eine Apparatur mit gewaltigem Schwenkarm bringt die beiden Männer eher zufällig zusammen. Aus hängenden Fleischbündeln werden im tastenden Bodenduett zweier Nackter – hochragend Charmatz, kleinwüchsig und verwachsen Raimund Hoghe – Individuen in der fast liebenden Erfahrung des fremden Körpers. Abgeschottet im Hintergrund strebt Julia Cima eine Schräge empor. Hoghe, zerbrechlich in seiner einsamen Unentschlossenheit, zieht es widerstrebend zu jener Ecke, in die Charmatz zuvor entschwand.
Als nichtig erwiesen sich die Abschlussarbeiten von Studenten des 1995 durch Keersmaeker gegründeten Brüsseler Ausbildungsinstituts P.A.R.T.S.: Unter den vier Beiträgen des ersten Programms überzeugte einzig eine komödiantisch überschäumende Lovestory. Und auch „Sub-Sahara“, ein Vierer junger afrikanischer Choreografen, strandete bis auf ein energetisches Trio um Wegsuche im Experiment.
Exemplarisch enthüllten sich in zwei Soloabenden Asien und Europa. „I Am A Demon“ erzählt mit Video, Tonband, Bewegung und Meditation vom Werdegang des Thailänders Pichet Klunchun, der bei seinem inzwischen verstorbenen Meister die 2000-jährige Technik des Maskentanzes Khon erlernte. Der Part des erdverbundenen Dämons wurde seine Spezialität. In Shorts untersucht er mit bravourös präzisem Körper, wie das traditionelle Formenarsenal heutigem Verständnis nutzbar gemacht werden kann. Nach 60 verinnerlicht ehrlichen Minuten hat er auch verbal informiert, den Geist seines Meisters herbeibeschworen – und den Zuschauer beschenkt, erbaut, berührt. Wunderbar!
Alles muss raus, lautet die Devise des hyperextrovertierten Engländers Nigel Charnock. Seine Kunstgestalt „Frank“ singt, tanzt, persifliert, schwadroniert lauthals, bissig, hemmungslos über Gott und die Welt. Ein begnadeter Entertainer, dem vom Schopf bis zum Schritt nichts heilig ist, der Menschen und Moden glossiert, keine Ruhe gibt noch lässt, der amüsiert und zudröhnt.
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