Grenzverwischungen auf allen Etagen

„Dialoge 06 – Radiale Systeme“ von Sasha Waltz eröffnen den neuen Spielort RadialSystem

Berlin, 16/09/2006

Nach Läufen und Diagonalformen, prismatischen Massenmustern und chorischen Staffelbildern der Tänzer zieht sich die Musik aus dem Geschehen zurück. Nur Bläserklang hallt in der kathedralenhaft filigranen Akustik der Halle nach, ehe mit dem Licht auch er verebbt. Fast zweieinhalb Stunden des Dialogs zwischen Tanz und Musik, Architektur und Gesang enden mit einem gefeierten Finale, das den Spielalltag in Berlins jüngstem Veranstaltungsort einleitet: dem ungewöhnlichsten der Stadt, republikweit einzigartig. Seine einstige Funktion als Pumpwerk in James Hobrechts zwölfteiligem Entwässerungskonzept für die damals arg unreinliche Hauptstadt gab den symbolischen Namen: RadialSystem V, einen Steinwurf weit nur vom Ostbahnhof.

Denn das von Jochen Sandig und Folkert Uhde, geschäftsführenden Gesellschaftern der tragenden RadialSystem GmbH, geleitete Unternehmen möchte Kunstprozesse verknüpfen und damit ausstrahlen, wie es Hobrechts komplexes Radialsystem auf seine Weise tat. Nach dem Bau 1880 musste es 1904 erweitert werden, erlitt Kriegszerstörung und späteren Teilabriss, erlebte Umrüstungen bis hin zu Elektrobetrieb, wurde durch Errichtung eines moderneren Pumpwerks direkt nebenan ein Fall nur noch für den Denkmalschutz.

Gerhard Spangenberg, Architekt auch der TrepTowers, entriss den Gebäudetorso seinem Vergangenheitsschlaf und führte ihn durch Verbindung mit einem neuen, rechtwinklig umgreifenden Baukörper einer Zukunftsnutzung zu. So entstanden im Parterre aus Maschinenhalle und Kesselhaus zwei geräumige Auftrittsorte: die 600 Quadratmeter messende Halle mit ornamentierten Backsteinwänden und verstrebter Decke überm Laufkran, Wand an Wand ein dreiseitig betonverkleideter Saal von 400 Quadratmetern. Foyers, Garderoben, Büros, drei Studios birgt der Neubau am Spreeufer. Ein zweistöckiger, glasgefasster Kubus, sein überdachtes riesiges Deck und die gastronomisch genutzte Spreeterrasse mit Bootsanleger bieten Besuchern wie Künstlern zusätzliche Reize.

Alle Formen künstlerischer Tätigkeit – Probe, Produktion, Vernetzung, Aus- und Weiterbildung – sollen im RadialSystem V ebenso ihren Platz haben wie Messen, Galas, Empfänge. „Dialoge 06 – Radiale Systeme“ als erste Uraufführung demonstrierte das Potenzial des Industriedenkmals als multimediales Kulturzentrum. Für ihre begehbare Installation hatte Choreografin Sasha Waltz knapp 30 Tänzer, die Akademie für Alte Musik, die musikFabrik und die Sänger von Vocalconsort übers ganze Haus in fruchtbares Zusammenwirken verstrickt. Musik von Frescobaldi bis Scelsi, A-cappella-Gesang aus Renaissance und Barock, zeitgenössischer Tanz in atmender, respektvoll harmonischer Gemeinschaft inmitten alter und neuer Architektur – Grenzverwischungen à la RadialSystem.

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