Royals unter sich
Die Royal Academy of Dance (RAD) begrüßt Queen Camilla als neue Schirmherrin
Vorsichtshalber ist der neue Abend mit zwei Uraufführungen nur fünfmal angesetzt, und zu extrem billigen Eintrittspreisen – aber so langsam kommen selbst die Briten auf den Geschmack. Sowohl Christopher Wheeldon, der (Noch-) Resident Choreographer des New York City Ballet, als auch Wayne McGregor, der Leiter der freien Truppe Random Dance, der erst seit einigen Jahren für klassische Kompanien arbeitet, ernteten spontane Jubelstürme vom traditionell konservativ orientierten Tanzpublikum im Londoner Royal Opera House.
In flächigem Hellgrau choreografiert McGregor sein „Chroma“ zu einer spannend zwischen Jazz, Klassik und Minimal Music hin- und hergerissenen Partitur des britischen Komponisten Joby Talbot (in die – Skandal, Skandal – auch drei Songs der Garagenrocker White Stripes verarbeitet sind).
Gegenüber seinen beiden Stuttgarter Stücken „Nautilus“ und „Eden l Eden“ sowie dem faszinierend sinnlichen Royal-Ballet-Vorgänger „Qualia“ scheint McGregor hier ein wenig seinen persönlichen, futuristischen Stil verloren zu haben – jetzt sehen die stachlig hinausgestreckten Beine, die martialischen Sprünge auf den Körper doch ein wenig nach Forsythe oder David Dawson aus. Mag sein, dass auch die Londoner Tänzer nicht schnell genug sind: Abgesehen von modernen Spezialisten wie Steven McRae und Edward Watson oder von Alina Cojocaru, die sowieso alles kann, wirken einige der zehn Tänzer zu klassisch-betulich, zu wenig zackig; Tamara Rojo zum Beispiel tut sich schwer mit dem extrem schnellen, harten Stil auf halber Spitze.
Der Exzentriker McGregor scheint hier ein wenig von der modernen Ballettästhetik aufgefressen zu werden – während seine anderen Werke für große Ballettkompanien eine Idee, ein Konzept, ein Programm hatten, wirkt dieser Versuch in abstraktem Tanz seltsam ziellos. Zwischen den beiden britischen Uraufführungen gab es Balanchines „Vier Temperamente“, worin vor allem die Frauen des Royal Ballet brillierten (wie überhaupt der Qualitätsunterschied zwischen den Geschlechtern in London eklatant ist: viele technisch exquisite, ausdrucksstarke Damen, viele langsame und langweilige Männer). So blass wie Viacheslav Samodurov in „Melancholisch“ blieb, so technisch und stilistisch perfekt glänzte Marianela Nuñez in „Cholerisch“. Neben der souverän strahlenden Darcey Bussell legte Carlos Acosta im „sanguinischen“ zweiten Satz ein bisschen zu viel „Don Quijote“-Schmackes in seine Sprünge und Posen – nur leider reagieren Balanchines Ballette schon auf kleinste Spuren von Pathos allergisch. Den „phlegmatischen“ dritten Satz ging Edward Watson zu überintellektuell an, er fraß sich geradezu ins Publikum mit seinen intensiven Blicken. Ein niveauvoller, aber kein rundum beglückender Balanchine.
Christopher Wheeldons neues Werk heißt „Danse à grande vitesse“, kurz „DGV“, analog zu „MGV“ („Musique à grande vitesse“), dem verwendeten Musikstück des Minimalisten Michael Nyman, das wiederum nach dem TGV, dem französischen Hochgeschwindigkeitszug benannt ist. Alles klar? So wahnsinnig schnell aber geht es auf den ersten Blick gar nicht zu, denn immer wieder finden Teile der Pas de deux für vier Paare in traumverlorener Zeitlupe statt, während dahinter sozusagen die Musik vorbeirast. Raffiniert widersteht Wheeldon der Verlockung der musikalischen Hochgeschwindigkeit und spielt auf eine fast magische Weise mit der wechselnden Dynamik seiner Choreografie. Vor einer metallenen, in einzelne Stücke zerschnittenen Welle von Jean-Marc Puissant beschwört er nach und nach einen Sturmwind von Ballett herauf, wobei um die vier Solistenpaare herum immer wieder Teile des Corps de ballets über die Bühne fegen. Jeder der vier Pas de deux hat seine eigenen Motive, seine eigene Note – zum Beispiel Flügel- und Wellenbewegungen in den Armen oder eckig-geometrische Port de bras, extrem hohe und extrem lange Hebungen, weite athletische Sprünge, oft schlingen und wickeln sich die Frauen minutenlang um die Schultern ihrer Partner herum. Geradezu sensationell aber ist der Einfallsreichtum, mit dem Wheeldon das Corps de ballet bewegt, dessen immer wieder neu zusammengesetzte Ensembles das Material der Solistenpaare aufnehmen und variieren: als rhythmisch zuckendes Kollektiv, als Balanchine'sches Vier-Paar-Gefolge oder musikalisch hin- und herwogende La Ola, als über die Bühne wirbelnde Ein-Mann-Spindeln oder hinten in weiten Grand Jetés vorbeijagende Schatten.
Wheeldon reiht sie als diagonale Fluchtlinie und zoomt sie im nächsten Moment zum großen, flächendeckenden Netz auf – alles in diesem freien, athletischen und im schönsten Sinne stürmischen Tanzidiom, das zwar vollkommen auf der Neoklassik beruht, aber doch eine eigene, persönliche Sprache findet. Völlig anders als bei Balanchine wird „DGV“ nicht von abstrakter musikalischer Analyse strukturiert, sondern Wheeldon lässt sich von Stimmungen und Emotionen der Musik tragen. Er choreografiert assoziativer und freier, aber keinen Deut weniger musikalisch. Mit einem unendlichen Einfallsreichtum der Bewegungen gelingt dem 33-jährigen Briten genau das, was all die neoklassischen und pseudo-neoklassischen Choreografen versuchen und nicht schaffen – eine weitere Erneuerung der klassischen Ballettästhetik für die Moderne. Es gibt wieder Hoffnung.
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