Wissen in Bewegung - Tanzkongress Deutschland 2006

Dr. Karin Schmidt-Feister im Gespräch mit Dr. Johannes Odenthal

Berlin, 19/04/2006

Dr. Johannes Odenthal ist seit 1997 künstlerischer Leiter für den Programmbereich Musik/Tanz im Haus der Kulturen der Welt in Berlin Unter dem Motto „Wissen in Bewegung“ bietet der erste Tanzkongress Deutschland (nach den legendären Vorläufern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) als eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kulturen der Welt über hundert Referenten und mehr als fünfhundert Teilnehmern aus den Bereichen zeitgenössischer Tanz, Ballett, Pädagogik, Wissenschaft, Kritik, Management und Kulturpolitik eine viertägige Plattform für praxisrelevante Diskussionen über Perspektiven im und für Tanz.

Karin Schmidt-Feister: Inwiefern ist Tanz eine Wissenskultur? Warum braucht der Tanz eine vernehmbarere kulturpolitische Stimme? 

Johannes Odenthal: Der Tanzkongress Deutschland bietet die Chance sich in der deutschen Kulturlandschaft neu zu positionieren. Diese Chance entsteht aus der Tatsache, dass im Tanz Themen, Arbeitsweisen und Gefühlswelten aufgehoben sind, die in anderen Künsten nicht so präzise behandelt werden können. In der bisherigen Wissenshierarchie rangiert Tanz weit unten. Tanz wird nicht Wissen schaffen. Aber wir erkennen heute, dass unsere Gesellschaft extrem reformbedürftig ist, dass unser Bildungskanon keine Mehrheit der Gesellschaft erreicht. Wir brauchen daher eine grundlegende Debatte über Kultur und Kunst. Der Tanz hat heute die Möglichkeit einen neuen Kulturbegriff mit zu prägen. Deswegen sind der Tanzplan und Tanzkongress Deutschland extrem wichtig. Sie treiben den Vermittlungsprozess des Bundes hinein in Länder und Kommunen voran. Tanz wird Stimulator. Der Tanzkongress dient sowohl dem Austausch wie der Selbstvergewisserung. Du arbeitest mit vielen anderen an einer gemeinsamen Sache. Diese Gewissheit freut mich.

Neue Aspekte für die professionelle Tanzausbildung und Tanz für Schulkinder sind wichtige Diskussionsfelder, die endlich in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussionen rücken. Warum unterstützen Sie die Initiative TanzZeit - Zeit für Tanz in Schulen? 

Ich vertrete die These, wenn Tanz fest an unseren Schulen etabliert wäre, könnten wir die Ausdruckmöglichkeiten als Potenzial begreifen und fördern, ohne Tanz gegen andere Wissensgebiete auszuspielen. Tanzplan und Tanzkongress sind auch hier der Versuch aus internen Zirkeln heraus in eine größere Öffentlichkeit zu kommen. Wir können tanzend gesellschaftliche Veränderungsprozesse einleiten. Körperwissen stärkt soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit. Warum nutzen wir das nicht! 

„Tanzen im Ozean der Kommunikation“ heißt ein Gesprächsmodul des Kongresses. Ein Bild, das auf tiefe Umbrüche in der Produktion und Rezeption von Tanz im Zeitalter der Globalisierung verweist? 

Wir reden nicht über den deutschen Tanz, sondern über Tanz und Tänzer in Deutschland. Die Szene hier hat eine enorme kulturelle Vielfalt. Tanz ist ein interkulturelles Phänomen. Der Tanzkongress ist der Startschuss um durch das versammelte Wissen, das in vier Tagen in Berlin versammelt ist, die Kommunikation langfristig zu stärken.
Die zeitgenössische Tanzszene ist im 21. Jahrhundert grundsätzlich eine interkulturelle Kunstleistung, die sich im Austausch definiert und entwickelt. Tanz ist ein Modell für Internationalität und kulturelle Vielfalt. Tanz ist Teil eines Liberalisierungsprozesses. Insofern hat Tanz ein politisches, antifundamentalistisches Potenzial.
Tanz und Tänzer im 20. Jahrhundert haben sich sehr stark hinter Mythen, wie z.B. „Tanz ist die universelle Sprache“ oder „über Tanz kann man nicht sprechen“, zurückgezogen. Tanz hat sich lange hinter Wortlosigkeit versteckt. Jetzt gibt es bei Choreografen und Tänzern ein Denken in Bewegung, der Reflexionsprozess im Tanz selbst über Versuche der Verbalisierung hat zugenommen. Es entsteht eine Öffnung und im Dialog mit Dramaturgen und Tanzwissenschaftlern, die ihre Hochburgen aufgeben, eine ästhetische Kraft. Tanz kann sehr kritisch, extrem sinnlich und populär sein. Im HipHop ist das ganz selbstverständlich. Ich hoffe, wir kommen in ein paar Jahren zu einer vitalen Tanzsprache. Formale Vitalität bringt uns nicht weiter.

Der Tanzkongress wird mit 300000 Euro von der Bundeskulturstiftung finanziert, der Tanzplan Deutschland gibt fünf Jahre Förderung für interdisziplinäre Modelprojekte in neun deutschen Städten. Zeitgleich formierte sich im März ein bundesweites Tanz-Netzwerk von 17 Verbänden und Institutionen. Aufbruchstimmung in Sachen Tanz? 

Wir sind Teil eines groß angelegten Wissenstransfers zwischen Kunstproduktion, Rezeption und Ausbildung. In Großbritannien bekommt kein Künstler Förderung, der sein Wissen nicht auch an Schüler weitergibt. Wer vom Staat subventioniert wird, der muss etwas davon an die Gesellschaft zurückgeben. Diesen Kreislauf müssen wir hier wieder herstellen. Die Tanzszene ist in einem Transformationsprozess. Es geht um eine stärkere Verankerung von Künstlern in gesellschaftlichen Prozessen.

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